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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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lassen, weil er nicht ausschließen konnte, dass auch andere das kostbare Gefäß in ihren Besitz bringen wollten.
    Der heilige Gral sollte auf ewig da ruhen, wo sein angestammter Platz war: im Felsenkloster von Juan de la Peña, dem Schoß der heiligen Mutter Kirche.

 
VERMÄCHTNIS 6
IN DER TIEFE DER NACHT
      
     
    León, Herbst 1227
     
    Sieben Schritte bis zur Tür. Fünf zum Fenster, falls die vergitterte Öffnung über meinem Kopf diese Bezeichnung überhaupt verdiente. Die meiste Zeit hatte ich sie mit Lappen zugestopft, um die Kälte auszusperren. Aber bisweilen zog ich sie weg, stellte mich darunter und sog gierig die Luft ein, die durch die Ritzen hereinströmte. Der Herbst war weit fortgeschritten; trotz des Kohlebeckens, das Tariq immer wieder auffüllte, fror ich.
    Meine Bitte nach mehr Decken hatte Diego abgelehnt.
    »Soll ihre Hitze erlöschen und damit auch die Begierde des Fleisches. Das wird sie lehren, sich mit reumütigem Herzen dem Höchsten zuzuwenden.«
    Tariq sah betreten drein, als er mir diese Nachricht überbrachte. Diego hatte ihn zu meinem Kerkermeister gemacht.
    »Du kannst bleiben«, hatte er ihm verkündet, nachdem er mich in das Kellergeschoss gesperrt hatte. »Aber nur, wenn du sie bewachst. Du bürgst mit deinem Leben. Ich warne dich; wenn du nicht tust, was ich verlange, werden deine rachsüchtigen Vettern Gelegenheit erhalten, sich an dir auszutoben.«
    Ich war jedes Mal froh, wenn Tariqs Gesicht in der Tür erschien. Er war meine Verbindung nach außen, die einzige, die mir geblieben war. Er leerte meinen Leibstuhl. Er brachte mir das Wasser, mit dem ich mich wusch. Ihm konnte ich vertrauen.
    Manchmal, wenn er länger bleiben konnte, erzählte er mir von seiner Mutter. Wie sehr sie sich nach dem Süden und dem Plätschern der Wasserspiele gesehnt hatte. Es war hart für sie gewesen, die Heimat zu verlassen und sich in der Familie ihres Mannes einzuleben. Und noch um vieles härter geworden, als er starb und sein Bruder sie bedrängte. Aber sie hatte niemals aufgehört, ihren Jungen zu lieben. Ihr Duft, ihre Wärme, ihre Zärtlichkeit - er schien sie schmerzlich zu spüren, sobald er davon erzählte. Ihn dabei zu betrachten vermittelte mir eine Ahnung davon, wie es zwischen Mutter und Kind sein konnte. Erfahrungen, die ich stets vermisst hatte. Jetzt, da ich selbst ein Kind erwartete, wurde mir bewusst, wie sehr.
    Ich war süchtig nach seinen Erzählungen. Ohne ihn schien die Einsamkeit unerträglich.
    Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, warum Tariq immer dünner wurde. Er sparte sich Essen vom Mund ab, um es mir zuzustecken. Diego ließ mich nicht verhungern, aber die Portionen, die er mir zugestand, waren so knapp, dass der Hunger mein ständiger Begleiter wurde. Immer häufiger überfiel mich Benommenheit, die mich träge und gleichgültig werden ließ. Manchmal hatte ich Angst, das Ungeborene könne Schaden nehmen. Aber ich beruhigte mich wieder. Mein Hunger schien ihm nichts auszumachen. Offensichtlich nahm es sich, was es brauchte. Denn es wuchs weiter und zappelte in mir wie ein ganzer Welpenwurf.
    Ich hatte mir angewöhnt, halblaut mit ihm zu reden, weil ich in den langen Stunden der Einsamkeit ein immer größeres Verlangen nach dem Klang einer menschlichen Stimme verspürte, und wenn es nur meine eigene war.
    »Dir wird nichts passieren«, sagte ich, während meine Hände die harte Kugel streichelten, zu der mein Bauch inzwischen geworden war. Manchmal, wenn die Tritte stärker wurden, hatte ich sogar das Gefühl, es antwortete mir. »Solange du in mir schwimmst, bist du in Sicherheit. Und wenn du erst einmal geboren bist, kommt dein Vater und rettet dich. Ich kann es kaum erwarten, dass er dich endlich zu sehen bekommt.«
    Das waren die guten Tage, wenn ich mich stark und unverwundbar fühlte.
    Aber es gab auch andere - viel zu viele.
    Dann war mir klar, dass es Illusionen waren, denen ich mich hingab. An Oswald zu denken tat so weh, dass ich es kaum ertragen konnte.
    Wo war er? Was tat er? Wieso hatte er mich noch nicht gefunden? Weil er doch ins Heilige Land aufgebrochen war? Oder weil sein Orden ihn erneut an einen anderen, nicht minder gefährlichen Ort verbannt hatte?
    Ich versuchte, mir sein Gesicht vorzustellen, seine Stimme, seine Berührungen. Aber es war, als habe sich kalter Nebel auf alles gelegt.
    Er ist enttäuscht, sagte ich mir. Er glaubt, ich sei ihm untreu geworden. Denkt er womöglich, ich liebte einen anderen und hätte ihn vergessen?
    Tariq

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