Strasse der Sterne
können, nur in der Ferne grüne Weinberge unter einem bunt gefleckten Himmel. Die Augen begannen ihnen zu tränen; sie trugen alles übereinander, was sie besaßen, und froren dennoch. Armando, der sich von Tag zu Tag besser fühlte, hatte sich erboten, Walli zu führen, was Pilar sehr zu erfreuen schien. Tariq und Estrella waren ein Stück zurückgefallen. Sie genoss es, an Caminos Seite voranzugehen, obwohl er so große Schritte machte, dass sie sich anstrengen musste, um mitzuhalten.
»Sei nicht zu hart mit ihr. Es ist nicht einfach, auf der Straße zu leben, schon gar nicht für eine junge Frau. Ich denke, sie hat viel erlebt, und bestimmt nicht nur Schönes.«
»Hat Estrella dich jetzt auch mit ihren Karten geblendet?«
»Sie hat mich nachdenklich gemacht. Wie kann sie so tief in mein Inneres sehen? Und woher weiß so ein junges Ding Bescheid über Dinge, die eigentlich niemand wissen kann außer mir und ...«
»Rena«, fuhr Moira fort. »Es ist immer nur sie, nicht wahr? In allem.«
»Seit ihrem Tod weiß ich nicht mehr weiter. Sogar der Weg zu Santiago erscheint mir plötzlich sinnlos.«
»Hab Geduld, Camino. Du wirst bald wieder klarer sehen. Vertrau der Sternenstraße. Lass einfach zu, was geschieht!«
Er schien sie nicht zu hören.
»Wieso habe ich sie überhaupt wieder gefunden? Nur, um sie erneut zu verlieren, unwiderruflich? Was macht das für einen Sinn?«
»Du hast sie nicht verloren. Die Toten verlassen uns nicht. Die guten ebenso wenig wie die bösen. Das habe ich am eigenen Leib erfahren.«
»Es gibt keine bösen Menschen.« Camino musste gegen die starken Böen anschreien. »Nur schwache.«
»Sag das nicht«, widersprach sie. »Ich habe dem Bösen ins Auge gesehen. Und du auch. Belüg mich nicht.«
Camino blieb eine Weile stumm.
»Du hast Recht«, sagte er schließlich. »Und in jenem Augenblick erschien es mir schlimmer als die blutigste Schlacht. Aber bei näherer Betrachtung war es nicht das Böse, das mich höhnisch anbleckte, sondern nur eine getriebene, unglückliche Kreatur.«
»Wieso kannst du verzeihen?«, murmelte Moira. »Und ich nicht?«
Der Schmerz in ihrem Gesicht war so groß, dass er die Hand ausstrecken wollte, um es zu berühren. Sie presste die Ellenbogen gegen die Brust.
Einer trage des anderen Last, dieser Bibelspruch fiel ihm plötzlich ein. Vielleicht war das der Grund, warum sie zu zweit gegen den Wind ankämpften, auf einem schier endlosen, steinigen Weg, weit weg von zu Hause.
»Willst du mir nicht davon erzählen?«, sagte er. »Worte können helfen und trösten.«
»Es gibt Dinge, die zu schrecklich sind, um sie auszusprechen.«
»So weh hat man dir getan?« Caminos Stimme war sanft. »Wer? Der Mann mit den Eisenfesseln?«
»Hans?« Trotz ihrer Trauer musste sie lachen. »Nein.
Der hat mir nur gezeigt, was passiert, wenn man sich für besonders schlau hält und doch auf den erstbesten Betrüger reinfällt. Um so tief zu stürzen, muss man sehr lieben ...«
»Das dort drüben ist Torres del Rio«, sagte Armando, der sie inzwischen eingeholt hatte. »Das Pferd braucht Wasser und frischen Hafer. Wir sollten eine Rast einlegen.«
*
Die beiden Pferde sah er zuerst, eine Stute und einen Wallach, apfelgrau die erste, braun und glänzend gestriegelt der andere. Zwei edle Reittiere, vor der Kirche an einen Baum gebunden.
Das Pferd ist bekanntlich der wichtigste Teil des Ritters. Die tiefe Stimme seines deutschen Lehrmeisters Gerhard klang wieder in seinem Ohr. Jeder, der bei den Templern die Disziplin zu Pferd brach, wurde zur Strafe zu Fuß ins Lager zurückgeschickt. Und er hatte freiwillig Mantel und Pferd im Kloster Leyre zurückgelassen!
Unwillkürlich tastete Armando nach seinem Schatz. Das vertraute Gewicht des Kelchs besänftigte ihn. Abt Miguel hatte ihm geraten, sich in einen Pilger zu verwandeln. Und es war ein guter Rat gewesen. Gab es also Anlass, an der Klugheit und Lauterkeit seines Mentors zu zweifeln?
Der Anblick der beiden Templer, die im Halbrund des Chorgestühls knieten, versetzte ihn in Unruhe. Zwei große Männer, stolz in ihren Waffenröcken und den weißen Umhängen, von denen sich blutrot das Tatzenkreuz abhob. Sie trugen keine Helme, waren aber mit Kettenhemd und Beinlingen wie zum Kampf gerüstet. Wieso traf er sie hier? Bedeutete das, er solle das Pilgergewand ablegen und als Templer den Schatz nach Hause bringen?
Sein Blick wanderte hinauf in die Kuppel, blieb an der klaren Führung der Rippen hängen, den einander
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