Strasse der Sterne
von mir?«
»Schließlich habe ich Augen im Kopf.« Estrella biss sich auf die Lippen. »Verzeih! Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Warum tust du es dann?«
»Es war keine Absicht. Ich habe eben keine Erfahrung mit Blinden.« Sie legte ihre Hand auf Pilars Arm. »Warum machst du so ein Gesicht? Du bist jung. Du hast ein Pferd und einen Diener, das ist viel mehr, als viele andere besitzen. Du solltest es dir nicht zu sehr zu Herzen nehmen.«
»Da täuschst du dich«, sagte Pilar. »Ich bin nicht reich. Ich habe Vater und Mutter verloren, und unser Haus ist verbrannt. Außerdem wird man sehr schnell einsam, wenn man blind ist.«
»Du hast Sehnsucht? Nach jemandem, der dich liebt?«
»Haben wir das nicht alle? Wenn auch auf unterschiedliche Weise?«
»So groß sind die Unterschiede gar nicht. Männer vor allem sind sehr leicht zu beeinflussen. Man muss nur wissen, wie. Glaub mir, ich hab Erfahrung damit! Du machst ihnen schöne Augen, zeigst ein bisschen Haut und schon kannst du mit ihnen anstellen, was du willst. Soll ich dir ein paar sichere Rezepte gegen Einsamkeit verraten?«
Pilar erstarrte so spürbar, dass Estrella ihre Hand zurückzog.
»Aber was reden wir? Vielleicht willst du lieber die Karten befragen. Dann weißt du gleich mehr.« Sie lachte, als Pilar stumm blieb. »Versuch mir bloß nicht einzureden, dir läge nichts daran, die Zukunft zu erfahren!«
»Ich kann die Karten nicht sehen.«
»Ich sage dir, was du gezogen hast. Natürlich musst du mir vertrauen. Das kannst du ruhig.« Sie senkte ihre Stimme. »Ich bin nämlich gar nicht so, wie du denkst. Und diese Sache, neulich nachts, mit Armando...«
»Ich will zu den anderen.« Pilar stand abrupt auf, ihr Stock flog zur Seite. Sie bückte sich, tastete blindlings im Staub nach ihm.
»Hier!« Estrella drückte ihr den Stock in die Hand. »Aber warte noch. Ich möchte dir noch sagen, wie du ...«
»Pilar!« Das war Moiras Stimme. »Willst du ein Stück mit mir gehen?«
»Ich komme«, rief Pilar und lief davon, so schnell es ihr möglich war.
»Euch krieg ich auch noch zu fassen«, murmelte Estrella und berührte das Geheimnis zwischen ihren Brüsten. »Alle beide. Wartet nur!«
*
Zur gleichen Zeit stand Armando vor der Pforte der Komturei. Das inbrünstige Gebet vor der Weißen Jungfrau hatte ihn nicht ruhiger werden lassen. Der Aufruhr in ihm tobte. Er musste die Hand nur ausstrecken, um den Klopfer zu betätigen, und der Pförtner würde ihn nach seinem Anliegen befragen.
Die Schale in seiner Tasche schien mit jedem Atemzug schwerer zu werden. Seit der Nacht mit Estrella hatte er nicht mehr gewagt, sie zu berühren oder auch nur anzusehen. War es nach allem, was geschehen war, nicht seine Pflicht, sie unverzüglich Brüdern seines Ordens zu übergeben, die reiner waren als er? Frommer? Und daher ihrer würdig - im Gegensatz zu ihm?
Er wollte beichten, um sich endlich wieder frei von Schuld zu fühlen, aber die Angst, sein Vergehen auszusprechen, war noch stärker. Er fühlte sich allein. Von aller Welt verlassen. Wie hilfreich wäre jetzt die warmherzige Klugheit seines Mentors Abt Miguel gewesen!
Als die Pforte sich plötzlich öffnete und mehrere Templer heraustraten, drehte er sich auf dem Absatz um, floh hinter die Kirche und drängte sich an die kalten Mauern. Dort wartete er, bis sie an ihm vorbei waren. Sie hatten ihn nicht einmal bemerkt.
Allmählich verebbte sein Zittern. Der Gedanke an Abt Miguel schien ihm geholfen zu haben. Er versuchte sich seine Stimme vorzustellen und wusste plötzlich, was er tun musste.
Er durfte es sich nicht zu leicht machen. Der Gral gehörte nach Tomar. Und es war seine Aufgabe, ihn dorthin zu bringen.
*
Auf dem Weg nach León, Juli 1246
Nach den braunen Häusern von Sahagún querte der Pilgerweg die flachwellige Getreidelandschaft. In Mansilla de las Mulas überquerten sie auf einer Brücke den Esla. Es war nicht mehr weit bis León, Camino aber bestand auf einem Abstecher nach San Miguel de Escalada. Zu seiner Überraschung schlossen sich ihm alle an, sogar
Estrella, die gerade noch am lautesten dagegen gemault hatte. Seltsames schien sich mit ihr zu vollziehen, seit León immer näher rückte. Sie bewegte die Lippen wie im lautlosen Selbstgespräch, starrte vor sich hin und schüttelte immer wieder den Kopf.
Auch Tariq schien innerlich bewegt. Als sich die Pilgergruppe vor der Kirche zum Essen niederließ, hielt er sich abseits und wollte weder Oliven noch Brot. Moira
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