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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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zu dem Abend, an dem sie das Gespräch ihrer Eltern belauschte und erfuhr, dass sie nicht ihre Eltern waren.
    Mit einem Mal war der Vorhang gerissen.
    Sie war ein Kuckucksei. Ein ungewolltes Kind, das die eigene Mutter verstoßen und an fremde Leute weggegeben hatte. Keine Jüdin, die der Sohn des Rabbi zur Frau nehmen würde.
    Da, nur wenige Schritte entfernt - ein großer, beleibter Mann mit den markanten Zügen ihres Vaters! Aber er ging gebeugt, und sein Haar glänzte nicht mehr rötlich in der Morgensonne wie ihres, sondern war grau und stumpf geworden.
    Der jähe Schmerz in ihrer Brust war so heftig, dass sie nach Luft rang. Unwillkürlich streckte Estrella die Hände nach ihm aus. Aber ihre Füße schienen wie angewurzelt auf dem holprigen Pflaster.
    *
    Als sie das bräunliche Wasser des Rio Bernesga überquerten, blieb Tariq auf der Brücke noch einmal stehen.
    »Wir können immer noch umkehren«, sagte er. »Noch ist es nicht zu spät.« Walli wieherte leise, als würde sie jedes Wort verstehen. Sie war ungewöhnlich nervös, tänzelte und schrak bei jedem Geräusch zusammen.
    »Nein. Du hast es lange genug für dich behalten«, erwiderte Pilar. »Jetzt wird es Zeit, dass ich es auch kennen lerne.«
    »Bist du sicher, mi niña?« Er klang verzagt.
    »Ich bin sicher. Weiter!«
    Pilars Sinne nahmen auf, was ihnen begegnete. Die Gerüche, die aus den offenen Werkstätten drangen, die Stimmen der Handwerker und Händler, die ihr Tagwerk gerade begannen. Aus manchen Türen drang ihr ein Schwall abgestandener Luft entgegen, der noch der vergangenen Nacht zu gehören schien, aber ganz León putzte und reinigte sich für den neuen Tag.
    »Wo sind wir?«, fragte sie.
    »Beinahe am Ziel. Dort drüben beginnt die Calle de Conde Luna, die Straße der Silberschmiede. Dort steht das Haus deiner Familie.«
    Das Haus meiner Familie stand in der Wahlenstraße und ist verbrannt, dachte Pilar. Aufregung hatte sich in ihrem Magen eingenistet, ein prickelndes, heißes Gefühl, das sich langsam immer weiter ausbreitete. Sie atmete, als wäre sie steil bergauf gegangen. In ihren Ohren begann es zu sirren.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Tariq besorgt, als er ihr vom Pferd half.
    Sie nickte. »Klopf an! Ich will es endlich hinter mich bringen.«
    »Und du willst wirklich?«
    »Tariq!«, sagte sie scharf.
    »Schon gut ...«
    Sie hörte, wie er den Klopfer betätigte. Das Warten wurde zur Qual. Eine Ewigkeit tat sich nichts.
    »Vielleicht ist niemand zu Hause«, sagte sie in die Stille. »Oder alle schlafen noch.«
    Erneut schlug Tariq gegen die Türe. Jetzt wurde sie ungestüm aufgerissen.
    »Hast du den Verstand verloren, mich zu dieser nachtschlafenden Zeit ...« Die Männerstimme erstarb. »Blanca?« Ein zittriger Laut, furchtsam fast und doch voller Hoffnung. »Bist du das? Aber das kann doch nicht sein ...«
    »Ist er das?«, fragte Pilar.
    Tariq starrte ihn an. Das verwüstete Gesicht mit den tiefen Narben, die spärlichen Büschel eisgrauen Haares auf dem kahlen Schädel. Den rechten Arm, der ohne Hand war und in einem klobigen Stumpf unterhalb des Ellbogens endete.
    Er musste sich irren!
    Erst als der Mann sich leicht zur Seite wandte, erkannte er das Raubvogelprofil wieder. Noch immer stießen die schwarzen Brauen beinahe über der Nasenwurzel zusammen.
    »Ja, das ist er«, erwiderte Tariq ruhig. »Das ist Diego Alvar - dein Onkel.«

 
VERMÄCHTNIS 7
WETTERLEUCHTEN
      
     
    León, Spätherbst 1227
     
    Sie gruben Tag und Nacht.
    Ich hörte das dumpfe Klopfen, wenn sie mit ihren Werkzeugen den Weg durch die Finsternis weiter vorantrieben, das Scharren der Schaufeln, das Ächzen der Wände, die unter dem wachsenden Druck erzitterten. Tariq, mein wachsamer Spion, hatte sie belauscht. Er sorgte dafür, dass ich alles erfuhr, was im Haus vor sich ging. Aber selbst wenn ich nichts davon gewusst hätte: Die Ausnahmesituation, die ich selber heraufbeschworen hatte, schmiedete uns zusammen. Ich zitterte mit ihnen. Ich bangte und litt mit ihnen, obwohl der eine mein Peiniger war und der andere ein verhasster Fremder, den ich niemals heiraten würde, solange noch ein Funken Leben in mir war.
    Diego hatte sich in den Kopf gesetzt, einen unterirdischen Verbindungsweg zum Nachbarhaus zu graben, um ungesehen entkommen zu können. Niemand wusste besser als ich, dass er durchsetzen würde, was er sich vorgenommen hatte. Doch es traten Probleme auf, mit denen er nicht gerechnet hatte. Nicht nur, dass es immer schwieriger wurde, die

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