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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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abgetragene Erde wegzuschaffen. Die Beschaffenheit des Bodens änderte sich, je weiter sie vorwärtsdrangen. Massige Gesteinsbrocken erschwerten das Graben, und mehr als einmal drohte der Stollen über ihnen einzubrechen. Was Roger mutlos machte, stachelte Diego erst recht an.
    Er ruhte nicht, bis er eine Lösung gefunden hatte: Im Schutz der Nacht ließ sein langjähriger Sekretär Jorge, der uns alle paar Tage mit Lebensmitteln versorgte, eine Fuhre wuchtiger Holzbohlen bringen, mit denen sie die Decke verstärkten. Ungewollt wurde ich schon bald Zeugin dieses Bemühens: Zu den Geräuschen betriebsamen Arbeitens gesellte sich nun auch noch dumpfes Hämmern, und jeder Schlag klang in meinem Körper nach. Es war so laut, dass ich befürchtete, andere könnten darauf aufmerksam werden, und alles würde auffliegen. Aber meine Ängste waren unberechtigt.
    Denn es war, als habe die Welt uns vergessen.
    Seit die Seuchenfahne auf unserem Dach wehte, waren wir zu Aussätzigen geworden. Nur vereinzelt gab es Besuche: Simon ben Aaron, der an die Türe klopfte, um uns mit Medikamenten zu versorgen, und ein Diener Consuelos, der ab und zu Kerzen oder Öl brachte.
    Ich hatte keine Gelegenheit, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, und ich wollte Tariq nicht gefährden. Seltsamerweise gelang es mir sogar, mich an dieses eingeschränkte Leben zu gewöhnen.
    Das Einzige, was ich wirklich vermisste, waren die bang erwarteten Zeilen von Oswald. Doch nichts gelangte zu mir, und inzwischen hatte ich beinahe aufgehört, darauf zu hoffen.
    Advent kam und verging, ebenso Weihnachten, das Fest der Fleischwerdung Christi. Kein Fest für die Reinen, die das Fleisch verachteten. Für sie war Jesus niemals als Mensch geboren, niemals gekreuzigt worden und damit ebenso wenig am dritten Tag von den Toten wieder auferstanden.
    Keine Lichter, keine Gesänge, kein Festtagsbraten.
    Roger und Diego verbrachten die Feiertage mit emsigem Graben; Angelita hatte ich glücklicherweise schon seit Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Einzig Sancha suchte mich am Weihnachtsabend in meinem Verlies auf, um mir ein Geschenk zu übergeben: Wochenlang hatte sie an einer wärmenden Wolldecke gestrickt, die fürchterlich kratzte und so unförmig ausgefallen war, dass mir Tränen der Rührung in die Augen schossen.
    »Es ist nicht Recht, was Diego dir antut«, stieß Sancha hervor. »Du hättest Besseres verdient in deinem Zustand.«
    Sie blieb länger, als ihr erlaubt war, und als sie sich schließlich zum Gehen wandte, entdeckte ich in ihrem Gesicht zum ersten Mal Zeichen des Unmuts über meinen Bruder.
    Bis auf die eine Stunde täglich musste ich nach wie vor in meinem eisigen Verlies ausharren. Dass ich hustete, war Sancha ebenso wenig entgangen wie die hastige Bewegung, mit der ich mir ihre Decke um die Schultern geschlungen hatte.
    »In seinen Augen ist das Kind verdammt«, sagte ich. »Und ich gleichermaßen. Für ihn sind wir beide todgeweiht.«
    »Aber es lebt, und es will geboren werden«, erwiderte sie heftig. »Außerdem ist es eine schreckliche Sünde, jemanden zu töten. Das sagt schon die Heilige Schrift. Und das Kleine braucht doch seine Mutter. Ich glaube, als Mann kann er sich das nicht vorstellen. Aber ich kann es.« Sie kam näher. Ihre Züge waren plötzlich sehr weich. »Weißt du, ich hätte selber gern Kinder gehabt. Doch jetzt bin ich zu alt dafür. Was gäbe ich darum, einmal zu fühlen, wie so ein kleines Wesen in einem wächst ...«
    »Willst du es spüren?«, fragte ich leise.
    Sie zögerte. Ich nahm ihre Hände und legte sie auf meinen Bauch. Zögernd glitten sie darüber und zuckten plötzlich zurück.
    »Es hat nach mir getreten«, sagte sie und sah dabei richtig glücklich aus. »Ich glaube, ich hatte gerade eine kleine, spitze Ferse in der Hand.«
    »Es hält mich ordentlich auf Trab.« Ich musste lächeln. »Besonders nachts. Es hat schon jetzt jede Menge Temperament.«
    »Und Diego? Wird er euch ...«
    Mein Bruder war zu allem fähig. Ich konnte Verbündete dringend gebrauchen. Egal, wer es war.
    »Wirst du mir helfen, Sancha«, bat ich, »wenn es so weit ist?«
    Sie strahlte. »Gern. Auch wenn ich alles andere als eine erfahrene Hebamme bin.«
    »Wenn ich nur nicht allein sein muss.« Ich hustete. Es klang wie das Bellen eines Fuchses.
    »Er bringt dich um«, sagte sie besorgt. »Es ist viel zu kalt hier unten. Es wird euch beide umbringen.«
    »Vielleicht hat er ja genau das vor.«
    »Das darf er nicht.« Nie zuvor hatte ich

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