Strasse der Sterne
Kein Kruzifix. Die Reinen lehnten es ab, weil der wahre Jesus niemals am Kreuz gestorben war. Die heimliche Gemeinde wuchs langsam, aber beständig, und natürlich konnten nicht alle immer kommen. Kaufleute gehörten dazu, Apotheker, Schuster, Schmiede, Weber sowie andere Handwerker. In der Regel fanden wir einmal im Monat zum Melioramentum zusammen: um Vergebung zu empfangen für unsere Sünden.
Der Vollkommene, der den Ritus leitete, Pierre Renais, war ein kleiner, leicht gebückter Mann, dessen Haar wie Silbererz schimmerte. Er stammte aus Frankreich und war der dortigen Verfolgung nur knapp entgangen. Bei uns hatte er ein neues Leben gefunden. Inzwischen jedoch litt er an der Schüttelkrankheit und sehnte den Tag herbei, wo er endlich die Verantwortung einem Jüngeren übergeben konnte.
Er nickte uns zu, während wir die hinteren Plätze einnahmen, dann begann er zu beten.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des ehrwürdigen Heiligen Geistes, der ehrwürdigen heiligen Evangelien...«
Meine Gedanken glitten ab. Was Oswald wohl sagen würde, wenn er uns hier sähe? Auf Dauer konnte ich ihm nicht verheimlichen, was mich von allen unterschied. Aber war seine Liebe stark genug, um dies zu überstehen?
Ich zuckte zusammen, als der Perfectus die Stimme erhob.
»... und der hier gegenwärtigen Brüder und Schwestern, bitten wir dich, Heiliger Herr, vergib uns unsere Sünden. Benedicte, parcite nobis ...«
Es folgte eine schier endlose Aufzählung der Vergehen, bei denen die fleischlichen Gelüste im Vordergrund standen. Mir wurde noch unbehaglicher, als eine ältliche Frau nach vorne trat und mit weinerlicher Stimme öffentlich Bekenntnis ablegte. Ihr Ehemann könne nicht aufhören, sie körperlich zu erkennen, wie sie sich ausdrückte. Mit gefalteten Händen kniete sie vor ihm nieder.
»Ich bitte um deinen Segen«, brachte sie unter Tränen hervor. »Denn ich habe schwer gesündigt.«
Pierre legte ihr seine zittrige Rechte auf den Kopf und hieß sie wieder aufstehen.
»Von Gott empfängst du diesen Segen, um den du gebeten hast«, sagte er. »Gott segne dich und entreiße deine Seele dem schlimmsten Tod. Sollte dein Mann erneut versuchen, dich zu berühren, dann schicke ihn zu mir. Ich werde ihm erklären, dass es ein Ende damit haben muss.«
»Er behauptet, es sei sein gutes Recht. Wozu sei ich sonst seine Frau? Wenn ich nicht bei ihm liege, verdiene ich auch nicht zu essen. Er hält mich für total verdreht. Er weiß doch nicht, dass ich ...« Vor lauter Schluchzen konnte sie kaum noch weitersprechen.
»Wie heißt dein Mann?«
»Paco.«
»Dann schick Paco zu mir«, sagte er väterlich. »Ich werde dafür sorgen, dass deine Qual ein Ende hat.«
Andere hatten sich bereits hintereinander aufgestellt, um es ihr nachzutun. Mir fiel es immer schwerer, stillzuhalten. Meine Ohren juckten und ich verspürte das Bedürfnis, laut zu niesen. Von Anfang an hatte mir dieser Akt der Selbstentblößung Unbehagen eingeflößt. Was konnte zwischen Gott und den Gläubigen schon stehen - außer dem Gewissen?
Mein Widerwille wuchs, als sich die Reihe vor mir lichtete. Ich wollte nicht lügen, wenn ich vor Pierre stand, aber die Wahrheit konnte ich ebenso wenig sagen. Mir fiel nur ein Ausweg ein, um mich aus diesem Dilemma zu retten, zumindest für heute.
Ich fasste mir an den Magen, begann leicht zu taumeln.
Diego berührte meinen Arm.
»Was ist mit dir?«, fragte er besorgt.
»Weiß nicht«, flüsterte ich. »Mir ist auf einmal so schrecklich übel ... vielleicht die Suppe ...«
»Ich bring dich nach draußen«, sagte er. »Stütz dich auf mich.«
In dem vergitterten Innenhof ließ ich mich stöhnend auf eine Bank sinken. Eine Weile saß ich da mit geschlossenen
Augen und atmete stoßweise. Alle Fenster des Hauses waren fest verschlossen. Kein Laut drang zu uns heraus. Drinnen würden sie sich weiter öffentlich bezichtigen, was manchen der Reinen eine eigenartige Lust zu verschaffen schien.
»Es tut mir Leid«, sagte ich schließlich und verabscheute mich im gleichen Augenblick für meine Unaufrichtigkeit. Niemals hatte ich meinen Bruder belügen und täuschen wollen. Nun tat ich es beinahe jeden Tag. »Jetzt habe ich das Melioramentum gestört.«
»Du siehst blass aus. Vielleicht ist es doch etwas Ernsteres? Wenn du krank bist, verschiebe ich meine Reise.« Er klang entschlossen.
»Aber das darfst du nicht«, sagte ich erschrocken, »nicht meinetwegen! Die Gemeinde braucht doch einen neuen Perfectus. Siehst
Weitere Kostenlose Bücher