Straße der Toten
das beste Pferd, das ich je hatte. Schlau. Und mutig. Es ist mehr wert als die meisten Menschen.«
»Das mag ja sein, aber es hat auf den Boden geschissen. Jetzt riecht es hier wie im Pferdestall.«
»Damit werden wir wohl leben müssen.«
Sie gingen ins Schlafzimmer. Jebidiah führte das Pferd hinein, ließ es dann los und nahm Marys Schirm vom Bett, zog sein Taschenmesser hervor und schnitzte kleine Späne von der Spitze ab.
»Freut mich, dass Sie einen Zeitvertreib gefunden haben«, sagte Mary. »Ich hab eine Scheißangst.«
»Geht mir genauso, aber Schnitzen entspannt mich, vor allem wenn es einem Zweck dient.«
»Was für einem Zweck?«
»Diese kleinen Eichenspäne. Damit Eiche den Wölfen schaden kann, muss etwas vom Inneren des Baumes zu sehen sein. Eiche allein genügt nicht. Es muss abgeschabte oder angespitzte Eiche sein. Alles, bei dem die Rinde fehlt oder das Innere des Baumes freigelegt ist.«
»Was haben Sie denn vor? Wollen Sie sie aufspüren und mit den kleinen Splittern anstupsen? Ich weiß nicht, was das bringen soll.«
»Ich werde diese kleinen Stücke nehmen und sie noch kleiner machen. Dann nehme ich meine Munition, mache mit dem Taschenmesser kleine Löcher in die Spitzen und stecke etwas von den Holzspänen hinein. Dann nehme ich das hier ...« Er holte die Kerze aus der Tasche. »... und versiegle die mit Holz bestückten Löcher mit Wachs. Wenn ich die Munition verschieße, gelangt die Eiche in die Körper der Wölfe.«
»Sie sind ja ein ganz Schlauer«, sagte Mary und trank einen Schluck aus Jebidiahs Flasche.
Er nahm sie ihr weg und sagte: »Das reicht, wir müssen alle unsere Sinne beisammen haben.«
»Wenn Sie wollen, können Sie sich bei mir ein wenig die Hörner abstoßen. Geht aufs Haus«, sagte Mary.
»Dann hätte ich wohl kaum alle meine Sinne beisammen, oder?«
»Wohl kaum. War nur ein freundschaftliches Angebot.«
»Und ein gutes dazu. Aber ich fürchte, ich muss ablehnen.«
Jebidiah nahm ein Streichholz, zündete es an und hielt es unter die Kerze. Er klebte sie auf den Nachttisch, steckte den Docht an und schnitzte weiter. Bis er damit fertig war, war das Wachs weich. Mit Marys Hilfe stopfte er die Holzstückchen in die Patronen und versiegelte jede einzelne mit Wachs.
Von den mit Kiefern bestandenen Hügeln drang Geheul herüber und hallte durch die Straßen und das Hotel.
»Sie kommen«, sagte Jebidiah.
Jebidiah ging zum Treppenabsatz und schaute in den Saloon hinunter. Die Geister waren verschwunden, mit Ausnahme von Dol, der sich hinter der Bar flach auf den Boden gelegt hatte. Die Wölfe konnten ihm nichts anhaben, aber Jebidiah vermutete, dass er sie einfach nicht sehen wollte. Ob er nun tot war oder nicht, Angst hatte er immer noch. Jebidiah betrachtete die reglose weiße Gestalt eine Zeit lang, ging dann ins Zimmer zurück und schloss die Tür. Seine Revolver, die mittlerweile mit Spezialmunition bestückt waren, steckte er in die Holster zurück. Auch die Munition seiner Winchester hatte er präpariert, ebenso die in seinem Patronengürtel, bis er kein Wachs mehr hatte. Von Marys Schirm war mittlerweile nur noch ein dünner spitzer Stock übrig; den Schirm selbst hatte Jebidiah entfernt, um den Holzstiel mit seinem Messer zu bearbeiten.
Mary saß mit dem Gewehr auf dem Bett und sagte: »Ich treffe nicht mal den Hintern eines Elefanten, wenn ich ein Schnapsglas danach werfe.«
»Warten Sie, bis sie ganz nah sind.«
»Heiliger Jesus«, sagte Mary.
»Der wird Ihnen nicht helfen«, sagte Jebidiah. »Vertrauen Sie lieber auf die Winchester.«
»Vielleicht finden sie uns hier ja gar nicht«, sagte Mary.
»Sie finden uns. Sie haben Hunger, und sie können uns riechen.«
Mary schluckte deutlich hörbar.
Jebidiah saß auf einem Stuhl und beobachtete die schlafende Mary. Er war überrascht, dass sie überhaupt schlafen konnte, denn seine Nerven waren maßlos angespannt. Er zündete eine der Laternen an, stellte sie in der Nähe des Stuhls auf den Boden und setzte sich wieder. Schließlich zog er seine Taschenuhr hervor, ließ den Metalldeckel aufklappen, und vor seinen Augen wanderten die Zeiger von halb neun auf neun Uhr. Er atmete tief durch, schloss die Augen und sah dann wieder auf die Uhr. Wieder waren fünf Minuten vergangen. Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Etwas bewegte sich über die Straße, durch den tief hängenden Schatten, der fast überall in den Boden gesickert war wie schwarzes, unheilbringendes Öl. Jebidiah hatte nur einen
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