Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Kaffeepause einlegte. Ich hatte die Sonntagsausgabe der New York Times dabei. Dass man die New York Times nun auch in einem so entlegenen Teil der Welt wie Iowa am Erscheinungstag vom Automaten beziehen konnte, war eine der bedeutendsten Neuerungen, die mir seit meiner Ankunft aufgefallen waren; eine wahre Meisterleistung des Vertriebs. Wie ich die Sonntagsausgabe dieser Zeitung liebe! Ich zog mich in eine ruhige Ecke zurück und breitete sie vor mir aus. Von ihren zahlreichen Tugenden als Zeitung einmal abgesehen, vermittelt schon allein ihr Umfang ein angenehmes Gefühl der Sicherheit. Diese vor mir liegend Ausgabe muss wohl an die zehn bis zwölf Pfund gewogen haben. Sie hätte eine aus einer Entfernung von zwanzig Metern abgefeuerte Kugel aufhalten können. Ich habe einmal gelesen, dass für die Produktion einer Sonntagsausgabe der New York Times das Holz von 75 000 Bäumen benötigt wird. Jede einzelne Seite ist den Aufwand wert. Und was, wenn unseren Enkeln kein Sauerstoff zum Atmen bleibt? Zum Teufel mit ihnen.
Am liebsten lese ich in der Times jene Seiten, die so langweilig und unklar sind, dass sie eine Art einschläfernde Faszination auslösen – zum Beispiel die Kolumne »Wie verschönere ich mein Heim« (»Alles Wissenswerte über Schrauben und Verschlüsse«) oder die Briefmarkenrubrik (»Jubiläumsmarken zum 25-jährigen Bestehen der Luftfahrtedition«). Vor allem liebe ich die beiliegenden Werbeprospekte. Würde ein Bulgare
von mir wissen wollen, wie es sich in Amerika leben lässt, würde ich ihm ohne Zögern raten, in einem Stoß Reklamebeilagen der New York Times zu blättern. Sie dokumentieren ein Leben in Reichtum und Vielfalt, das die wildesten Träume der meisten Ausländer in den Schatten stellt. Wie zur Illustration meines Standpunktes enthielt die vor mir liegende Ausgabe einen Geschenkkatalog der Zwingle Company of New York mit einer Riesenauswahl von Produkten aus der Schublade Überflüssiger-geht’s-nicht – musikalische Schuhspanner, Regenschirme mit im Griff installiertem Transistorradio, elektrische Nagelzwicker. Welch ein großartiges Land! Am besten gefiel mir eine kleine, elektrische Heizplatte für den Schreibtisch, auf der man seinen Kaffee warm halten kann. Für Leute mit Gehirnschaden müssen diese Dinge ein wahrer Segen sein. Ebenso dankerfüllt dürften sich die Epileptiker im ganzen Land fühlen. (»Sehr geehrte Zwingle Company: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft mich nach einem epileptischen Anfall die Angst gequält hat, mein Kaffee könnte kalt geworden sein.«) Im Ernst, wer kauft diese Sachen – silberne Zahnstocher, Unterhosen mit Monogramm oder einen Spiegel mit der Aufschrift »Mann des Jahres«? Wäre ich Geschäftsführer einer dieser Firmen, würde ich eine Tafel aus poliertem Mahagoniholz auf den Markt bringen, die auf einem Messingschild die Aufschrift trüge: »Na, wie findet ihr mich? Ich habe 22,95 Dollar für dieses absolut nutzlose Stück Scheiße bezahlt.« Ich bin sicher, die Dinger würden weggehen wie warme Semmeln.
Obwohl ich tief in meinem Innersten wusste, dass ich es bereuen würde, habe ich in einem Augenblick geistiger Verwirrung selbst einmal etwas aus einem dieser Kataloge bestellt. Es handelte sich um eine kleine Leselampe, die man an sein Buch klemmt, um die an seiner Seite schlummernde Frau nicht zu stören. In dieser Beziehung war die Lampe ein voller Erfolg, denn sie hat kaum funktioniert. Ihr absurd schwacher Lichtstrahl erreichte lediglich die ersten beiden Zeilen einer Seite. Im
Katalog sah sie aus wie ein Scheinwerfer, mit dem man auf hoher See hätte Notsignale geben können. Nach ungefähr vier Minuten begann der Strahl zu flackern und erlosch. Ich habe die Lampe nie wieder benutzt. Die Sache ist die, dass ich von vornherein wusste, wie die Geschichte enden würde, nämlich mit einer bitteren Enttäuschung. Sollte ich jemals eine dieser Firmen leiten, würde ich den Leuten eine leere Kiste und die folgenden Zeilen schicken: »Um Ihnen die Enttäuschung zu ersparen, haben wir beschlossen, Ihnen die bestellte Ware nicht zu liefern, denn – wie Sie sehr wohl wissen – funktionieren die Dinger sowieso nicht. Lassen Sie sich dies eine Lehre sein.«
Ich legte den Zwingle-Katalog beiseite und befasste mich mit der Werbung für Lebensmittel und Haushaltsartikel. Da gab es haufenweise verlockende Hochglanzabbildungen von neuen, aufregenden Produkten – Produkten mit Namen wie Hunk o’ Meat Beef Stew ’n’ Gravy (»mit
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