Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
geöffnete Tür der Bar konnte ich den Pianisten sehen, einen gepflegten jungen Mann, der eine scheinbar endlose Serie von Akkorden und klimpernden Arpeggien spielte, die sich nie zu einer zusammenhängenden Melodie aneinander fügen wollten. Aber er wirbelte elegant über die Tasten und hatte ein gewinnendes Lächeln und blendend weiße Zähne, und darauf kommt es bei dem Pianisten einer Cocktailbar wohl vor allen Dingen an. Die Damen waren jedenfalls hingerissen.
Ich weiß nicht, wie viele Biere ich getrunken habe, aber – ich will ganz ehrlich sein – es waren zu viele. Zudem hatte ich die Wirkung des Alkohols in der dünnen Bergluft von Santa Fe erheblich unterschätzt. Als ich mich einige Stunden später von meinem Platz erhob, musste ich daher zu meiner Überraschung feststellen, dass die Kommunikation zwischen meinem Gehirn und meinen Beinen, die im Normalfall bestens funktioniert, vollständig zusammengebrochen war. Nicht einmal untereinander schienen sich meine Beine mehr zu verstehen. Während eines von beiden sich, wie angeordnet, auf den Weg zur Treppe begab, steuerte das andere in einem Anfall von Bockigkeit die Toilette an, was dazu führte, dass ich wie ein Mann auf Stelzen durch die Bar taumelte. Dabei muss ich ziemlich dämlich vor
mich hin gegrinst haben, als wollte ich sagen: »Ja, ich weiß, dass ich wie ein Idiot aussehe. Ist das nicht lustig?«
Auf dem Weg zum Ausgang rammte ich den Tisch einer Gruppe von reichen Leuten mittleren Alters, verschüttete ihre Drinks und plapperte eine Entschuldigung, während sich mein hirnloses Grinsen von einem bis zum anderen Ohr zog. Mit dieser plumpen Vertraulichkeit, die mich immer überkommt, wenn ich betrunken bin, tätschelte ich einer der Damen liebevoll die Schulter und benutzte sie sozusagen als Sprungbrett, mit dessen Hilfe ich der Treppe ein gutes Stück näher kommen konnte. Als ich sie erreicht hatte, drehte ich mich nochmals um und lächelte zum Abschied in den Raum, denn jeder der Anwesenden verfolgte mein Tun inzwischen mit Interesse. Dann sauste ich in einer fließenden Bewegung die Treppe hinunter. Ich bin weder richtig gefallen noch richtig gegangen. Ich bin eher auf meinen Schuhsohlen abwärts geglitten – ein, wie ich glaube, recht imposantes Kunststück. Meine besten Vorstellungen gebe ich übrigens meistens im Rauschzustand. Auf einer Party bei John Horner vor vielen Jahren bin ich einmal rückwärts aus einem Fenster im ersten Stock gefallen und so elegant wieder auf den Füßen gelandet, dass man südlich der Grand Avenue noch heute davon spricht.
Völlig verkatert machte ich mich am nächsten Morgen wieder auf den Weg zum Campus von St. John’s, fand meine Nichte und brachte sie mit einer herzlichen Umarmung in Verlegenheit. Wir frühstückten in einem schicken Restaurant in Downtown, und sie erzählte von St. John’s und Santa Fe. Anschließend zeigte sie mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt: die St.-Francis-Kathedrale (sehr schön), den Gouverneurspalast (sehr langweilig, voller Dokumente über die verschiedenen Gouverneure des Territoriums) und die berühmte Treppe der Loretto Chapel. Diese Holztreppe windet sich in Form einer doppelten Spirale zu einer Chorempore in rund sechseinhalb Metern Höhe hinauf. Ihre Besonderheit ist, dass sie nur durch ihr eigenes Gewicht
getragen wird. Sie sieht aus, als müsste sie jeden Moment zusammenbrechen. Die Legende berichtet, die hiesigen Nonnen hätten einst gebetet, es möge jemand kommen und ihnen eine Treppe bauen, woraufhin ein unbekannter Zimmermann erschienen sei und innerhalb von sechs Monaten die Treppe errichtet habe. Dann verschwand er ebenso geheimnisvoll wie er gekommen war, ohne sich für seine Arbeit bezahlen zu lassen. Hundert Jahre lang schlachteten die Nonnen diese Geschichte nach Kräften aus und verkauften die Kapelle dann vor ein paar Jahren ganz unerwartet an eine Privatfirma, die nun ihrerseits Profit herausschlagen will und 50 Cents Eintritt verlangt, was mir fast die Laune verdarb und meine Achtung vor Nonnen nicht gerade steigerte.
Im Allgemeinen natürlich ist es mit diesen Verallgemeinerungen immer so eine Sache – im Allgemeinen halten Amerikaner die Vergangenheit nur in Ehren, solange sie Geld abwirft und solange damit kein Verzicht auf Klimaanlagen, gebührenfreie Parkplätze und andere lebensnotwendige Annehmlichkeiten verbunden ist. Es geht nicht darum, die Vergangenheit um der Vergangenheit willen zu bewahren. Sentimentalitäten sind hier fehl am
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