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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Schönwetterwolken heran und streifte die Berge. Ich glitt über den rosaroten Asphalt des Highways wie über einen Streifen Kaugummi. Die Straße führte über den Wilkerson Pass und dann bergab
in ein lang gestrecktes Tal aus hügeligen Wiesen, glänzenden Flüssen und Blockhütten vor dem Hintergrund mächtiger Berge. Es war eine Landschaft wie aus den Werbespots für Deodorants. Ich hatte den Highway fast für mich allein und genoss den Anblick. In der Nähe von Buena Vista fiel das Land steil ab, und vor mir breitete sich eine weite Ebene aus, die sich bis zu den majestätischen Collegiate Peaks erstreckte. Diese Gebirgskette, die höchste der Vereinigten Staaten, besteht aus sechzehn über viertausend Meter hohen Gipfeln auf einem Gebiet von dreißig Meilen Länge. Ich folgte dem Highway durch die Ebene und fuhr auf die hoheitsvollen, blauen und schneebedeckten Collegiates zu. Es war, als würde ich durch den Vorspann eines Paramount-Films fahren.
    Eigentlich wollte ich nach Aspen. An der Abzweigung bei Twin Lakes verstellte mir jedoch eine Straßensperre den Weg. Auf einem Schild hieß es, der Highway über den Independence Pass nach Aspen sei nach starken Schneefällen unpassierbar. Über die gesperrte Straße lag Aspen nur ganze zwanzig Meilen entfernt, die nördliche Ausweichstrecke erforderte dagegen einen Umweg von 150 Meilen. Enttäuscht suchte ich auf der Karte nach einem anderen Nachtquartier und fuhr schließlich weiter nach Leadville, ein Ort, von dem ich noch nie gehört hatte.
    Die Außenbezirke von Leadville waren zwar ärmlich und verwahrlost – erstaunlicherweise trifft man in Colorado häufig auf Armut –, doch die breite Hauptstraße war auffallend schön, gesäumt von stattlichen viktorianischen Häusern mit kleinen und großen Türmen. Hier erblickten sowohl die »Unsinkable Molly Brown« als auch Meyer Guggenheim das Licht der Welt. Auch Leadville lebte einst vom Gold- und Silberbergbau. Wie Cripple Creek und Victor hat sich das Städtchen inzwischen dem Tourismus verschrieben – jeder Ort in den Rockies hat sich dem Tourismus verschrieben –, konnte sich aber etwas von seinem ursprünglichen Charme bewahren und führte mit seinen 4000 Einwohnern ein vom Tourismus unabhängiges Eigenleben.

    Ich nahm ein Zimmer im Timberline Motel, machte einen Bummel durch die Stadt und aß im Golden Burro Café anständig zu Abend – vielleicht war es nicht das beste Essen der Welt, wahrscheinlich nicht einmal das beste der Stadt, aber bei 6 Dollar für Suppe, Salat, Brathähnchen, Kartoffelpüree, grüne Bohnen, Kaffee und Kuchen kann man nicht meckern. Im Mondschein spazierte ich zurück zum Motel, sprang unter die Dusche und beschloss den Abend vor dem Fernseher. Wenn das Leben nur immer so einfach und sorglos wäre! Gegen zehn Uhr schlief ich ein und träumte glückliche Träume, in denen ich heldenhaft gegen angriffslustige Luchse, wacklige Holzbrücken und Windschutzscheiben voller klebriger Insekten kämpfte. Ich durfte sogar zusehen, als die Heldin sich auszog. Es war eine unvergessliche Nacht.

22
    Am nächsten Morgen kündigte der Mann vom Wetteramt im Fernsehen an, dass in den Rockies mit beträchtlichen Schneefällen zu rechnen sei, worüber er sich persönlich zu freuen schien. Jedenfalls funkelten seine Augen vor lauter Schadenfreude. Seine Karte zeigte ein Schlechtwettergebiet, das wie ein Fluch fast über dem gesamten Westen hing. Viele Straßen wären gesperrt, Reiseinformationen würden noch bekannt gegeben, sagte er, während über seine Mundwinkel die Spur eines Lächelns huschte. Warum sind die Leute vom Wetteramt im Fernsehen immer so boshaft? Selbst wenn sie versuchen, aufrichtiges Mitgefühl zu zeigen, merkt man, dass es nur Fassade ist, hinter der sich ein Mensch verbirgt, der seine Kindheit damit verbracht hat, Insekten die Flügel auszureißen und zu kichern, wann immer ein anderes Kind von einem Auto angefahren wurde.
    Ich warf all meine Pläne über den Haufen und beschloss, nach Süden in die kargen Berge von New Mexico zu fahren, die laut Wetterkarte von dem Schlechtwettergebiet verschont bleiben sollten. Eine meiner Nichten, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte, lebte in Santa Fe. Sie studierte an einem kleinen, exklusiven College, und ich war sicher, sie würde entzückt sein, wenn vor den Augen all ihrer Freunde auf dem Campus ein schmuddeliger, übergewichtiger Mann in einem billigen, staubigen Auto vorfahren, herausklettern und sie in die Arme schließen würde.

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