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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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meine Großmutter hatte sie bei ihrer letzten schluchzenden Umarmung verschoben, und dann war jeder zu zimperlich, sie wieder geradezurücken. Es war ein Schock, als ich begriff, dass er nie wieder über I Love
Lucy lachen oder sein Auto reparieren oder mit vollem Mund sprechen würde (für Letzteres war er in der ganzen Familie berühmt). Es war ehrfurchtgebietend.
    Aber nicht annähernd so ehrfurchtgebietend wie der Grand Canyon. Da ich nicht hoffen konnte, das Begräbnis meines Großvaters noch einmal zu erleben, war der Grand Canyon das einzige meiner tief greifenden Kindheitserlebnisse, das ich irgendwann einmal wiedererwecken wollte. Schon seit Tagen freute ich mich darauf. Ich musste in Winslow, Arizona, fünfzig Meilen vor Flagstaff, übernachten, weil die Straßen unpassierbar geworden waren. Am Abend fielen nur noch vereinzelte Schneeflocken vom Himmel, und bis zum Morgen hatte es ganz aufgehört zu schneien. Aber noch immer dräute der Himmel dunkel und unheilvoll. Durch eine schneeweiße Landschaft fuhr ich zum Grand Canyon. Kaum zu glauben, dass dies die letzte Aprilwoche sein sollte. Dichter Nebel hing über dem Land. Abgesehen von den dunstverhangenen Scheinwerfern gelegentlich entgegenkommender Autos konnte ich um mich herum nichts erkennen. Ich hatte gerade den Eingang des Grand Canyon National Park erreicht und die Gebühr von 5 Dollar entrichtet, als es wieder zu schneien begann. Die Flocken waren so groß, dass an ihrer Unterseite Schatten zu erkennen waren.
    Dreißig Meilen windet sich die Straße durch den Park am Südrand des Canyons entlang. Zwei-, dreimal hielt ich auf einem der Parkplätze und trat hoffnungsvoll an den Rand der Schlucht, um in den Dunst zu starren. Da lag er, der Grand Canyon, direkt unter meiner Nase, aber ich konnte nicht das Geringste von ihm sehen. Der Nebel war überall – er schob sich zwischen die Bäume, waberte über den Straßenrand und stieg dampfend aus dem Asphalt. Er war so dicht, dass ich Löcher hineintreten konnte. Niedergeschlagen fuhr ich ins Grand Canyon Village, ein Dorf, bestehend aus einem Visitors’ Centre, rustikalen Hotels und einer Reihe von Verwaltungsgebäuden. Unmengen
von Reisebussen und Wohnmobilen füllten die Parkplätze. Gelangweilt hingen die Leute in den Eingängen herum oder bahnten sich den Weg durch den Schneematsch. Ich ging in die Cafeteria des Hotels, trank einen überteuerten Kaffee und fühlte mich klamm und enttäuscht. Ich hatte mich wirklich auf den Grand Canyon gefreut. Durchs Fenster sah ich zu, wie sich draußen der Schnee häufte.
    Dann stapfte ich auf das 200 Meter entfernte Visitors’ Centre zu. Noch bevor ich es erreicht hatte, entdeckte ich ein mit Schnee beladenes Hinweisschild zu einem eine halbe Meile entfernten Aussichtspunkt. Spontan folgte ich dem Weg in die angezeigte Richtung, um wenigstens ein bisschen frische Luft zu schnappen. Der Weg führte durch einen Wald und war ziemlich glitschig, so dass ich nur langsam vorwärts kam. Währenddessen hörte es auf zu schneien, und die Luft war sauber und erfrischend. Nach einer Weile erreichte ich eine steinerne Plattform am Rand des Canyons. Da einen kein Zaun vom Abgrund fern hielt, trat ich vorsichtig dicht an den Rand und blickte hinunter. Ich sah nichts als graue Suppe. Ein Paar mittleren Alters gesellte sich zu mir, und während wir noch über das schlechte Wetter sprachen, geschah etwas Wunderbares. Der Nebel zog sich zurück. Lautlos teilte er sich, als würden sich in einem Theater die Vorhänge öffnen. Und plötzlich merkten wir, dass wir unmittelbar an einem steilen, Schwindel erregenden Abgrund standen, der mindestens 300 Meter in die Tiefe reichte. »Jesus!«, riefen wir und sprangen zurück, und »Jesus!«, ertönte es links und rechts. Es war, als würde eine Botschaft die Runde machen. Und dann herrschte sekundenlang absolute Stille. Nur das leise Rieseln des Schnees war zu hören. Und vor uns breitete sich ein Anblick aus, wie er ehrfurchtgebietender und atemberaubender auf dieser Erde nicht sein kann.
    Die Ausmaße des Grand Canyon übersteigen beinahe die Vorstellungskraft. Die gigantische Schlucht ist zehn Meilen breit, eine Meile tief und 180 Meilen lang. Man könnte das Empire
State Building darin versenken, und noch immer lägen Hunderte von Metern zwischen seiner Spitze und dem Rand des Canyons. Man könnte sogar ganz Manhattan darin versenken, und man befände sich so hoch über seinen Dächern, dass Busse wie Ameisen wirken würden, die

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