Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
ich, dass sie es nicht sind. Da wir früher immer zwischen Juni und August in die Ferien gefahren sind, hatte sich bei mir die Vorstellung festgesetzt, abgesehen vom Mittleren Westen wäre es in ganz Amerika das ganze Jahr über heiß. Wo man im Sommer auch hinfuhr, überall
herrschte eine mörderische Hitze. Nie sank das Thermometer unter dreißig Grad. Hielt man die Autofenster geschlossen, schmorte man im eigenen Saft; ließ man sie offen, flatterten Comic-Hefte, Landkarten und herumliegende Kleidungsstücke durch den Wagen. Wenn man, wie wir, kurze Hosen trug, verschmolz die nackte Haut der Beine wie Schmelzkäse auf einer Scheibe Toastbrot mit dem Sitz, und beim Aussteigen, wenn man beides unter Qualen wieder voneinander trennen musste, hörte es sich an, als würde man entweder den Sitz oder die eigene Haut in Fetzen reißen. Und berührte man im Hitzedelirium einmal aus Versehen mit dem Arm die stundenlang von der Sonne beschienenen Metallteile der Tür, schrumpelte die Haut an der Stelle und löste sich ab. Zuzusehen, wie sich ein Teil des eigenen Körpers einfach abtrennte, war ein erstaunliches und überraschend schmerzloses Schauspiel. Ich wusste nicht, ob ich aufschreien sollte, um meine Mutter auf meine schwere Verwundung aufmerksam zu machen, oder ob ich das Ganze aus Forscherdrang wiederholen sollte. Letztendlich tat ich nichts von beidem, sondern blieb lustlos in meiner Ecke sitzen. Für Experimente und theatralische Darbietungen war es viel zu heiß.
Jedenfalls überraschte es mich, in dieser Wüstenlandschaft winterliches Wetter vorzufinden. Je höher der Highway die Zuni Mountains hinaufkletterte, desto dichter wurde der Schneeregen. Hinter Gallup ging er schließlich in Schnee über. Nass und schwer fielen die Flocken vom Himmel, und der Nachmittag wurde so dunkel wie die Nacht.
Zwanzig Meilen hinter Gallup erreichte ich die Staatsgrenze von Arizona. Mit jeder Meile, die ich zurücklegte, wurde offensichtlicher, dass das Unwetter in dieser Region bereits länger andauerte. Lag der Schnee am Straßenrand anfangs noch knöcheltief, so reichte er schon bald bis an die Knie. Kaum zu glauben, dass ich noch vor wenigen Stunden bei strahlendem Sonnenschein in Hemdsärmeln durch Santa Fe gelaufen war. Im
Radio sprach man von geschlossenen Straßen und brachte eine meteorologische Schreckensmeldung nach der anderen – Schnee in den Bergen und sintflutartige Regenfälle anderswo. Es war das schlimmste Frühjahrsunwetter seit Jahrzehnten, sagte der Mann vom Wetteramt mit schlecht verhohlener Schadenfreude. Zum dritten Mal hintereinander musste das Heimspiel der Los Angeles Dodgers wegen Regen abgesagt werden – seit die Mannschaft vor dreißig Jahren von Brooklyn an die Westküste gekommen waren, passierte dies das erste Mal. Es gab keine Möglichkeit, dem Unwetter zu entrinnen. Missmutig steuerte ich auf das 100 Meilen weiter westlich gelegene Flagstaff zu.
»Und in Flagstaff liegen fünfunddreißig Zentimeter Schnee. Weitere Schneefälle sind zu erwarten«, sagte der Wettermann und hörte sich sehr zufrieden an.
23
Ganz gleich, wie viel man über den Grand Canyon gelesen, wie oft man ihn auf Bildern betrachtet hat – sein Anblick verschlägt einem den Atem. Unfähig, diese Ausmaße zu erfassen, steht der Verstand still, und für ein Weilchen ist man ein menschliches Vakuum, ohne Worte, ohne Atem. Man besteht nur aus ehrfürchtigem Staunen, dass etwas auf dieser Erde so groß, so schön und so still sein kann. Selbst Kinder verstummen bei seinem Anblick. Ich war ein außerordentlich redseliges und unausstehliches Kind, aber auch ich hielt unvermittelt den Mund. Ich kann mich daran erinnern, dass ich um eine Ecke bog und plötzlich wie angewurzelt dastand, während mir mein Geplapper im Halse stecken blieb. Ich war sieben Jahre alt, und dies war, wie man mir später erzählte, erst das zweite Mal in all den Jahren, dass ich meinen unaufhörlichen Redeschwall für einen Augenblick unterbrach, abgesehen von den kurzen Schlaf- und Fernsehpausen. Beim ersten Mal war es der Anblick meines toten Großvaters im offenen Sarg, der mich zum Schweigen brachte. Es war so unerwartet – niemand hatte mir gesagt, dass er da aufgebahrt liegen würde – und ließ mich sofort verstummen. Da lag er, still und reglos, mit einem Anzug bekleidet und mit Puder bestäubt. Ich weiß auch noch, dass er seine Brille trug (wozu die wohl gut sein sollte, dort, wo er jetzt hinging?) und dass sie verrutscht war. Ich glaube,
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