Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Schriftsteller eine solche Anziehungskraft ausübt – zumindest verstand ich es, bis ich in Taos selbst angelangt war. Ich hatte eine hübsche kleine Künstlerkolonie erwartet, in der die Leute in Kitteln und mit Staffeleien bepackt umherliefen. Doch es war nichts weiter als eine Touristenfalle. Abgesehen von einigen interessanten Galerien verkauften die meisten Geschäfte hässliche indianische Keramiken, klobige silberne Gürtelschnallen und Postkarten. Aber vor allem war Taos heiß und staubig, und es wimmelte von silberhaarigen Hippies. Dass es noch immer Hippies gab, die natürlich inzwischen Großeltern waren, amüsierte mich. Doch auch das entschädigte nicht für die Strapazen der Anfahrt. Also fuhr ich weiter nach Santa Fe und befürchtete schon, die Stadt würde ähnlich enttäuschend sein. Aber das war sie nicht. Es war sogar eine ausgesprochen schöne Stadt, die mich auf den ersten Blick faszinierte.
Der erste angenehme Eindruck von Santa Fe sind die vielen Bäume. Es gibt Bäume und Rasen und Schatten und kühle Plätze voller Blumen und das beruhigende Plätschern von Wasser. Nach der tagelangen Fahrt durch die dürre Weite des Westens ist die Stadt eine wahre Augenweide. Im Hintergrund zeichnen sich die rötlichen Sangre de Cristo Mountains ab, die ihre ganze Schönheit erst bei Sonnenuntergang entfalten, wenn sie – scheinbar von innen erleuchtet – wie eine Kürbislaterne zu glühen beginnen. Die Luft war warm und sauber. Santa Fe ist die älteste ständig bewohnte Stadt Amerikas. Sie wurde 1610 gegründet – ein Jahrzehnt, bevor die Pilgerväter von Plymouth aus in See stachen – und ist ungemein stolz auf ihr hohes Alter. Jedes Gebäude in Santa Fe, und ich meine tatsächlich jedes, besteht
aus Adobe. Da gibt es ein Adobe-Woolworth, ein mehrstöckiges Adobe-Parkhaus, ein sechsstöckiges Adobe-Hotel. Kommt man zum ersten Mal an einer Adobe-Tankstelle oder an einem Adobe-Supermarkt vorbei, denkt man noch »Ach, du liebe Güte, nichts wie weg hier!«, doch dann begreift man, dass es sich hier nicht um eine eigens für Touristen aufgebaute Kulisse handelt. Adobe ist schlicht und einfach das regionaltypische Baumaterial, dessen alleinige Verwendung der Stadt ein einheitliches Erscheinungsbild verleiht, wie man es in kaum einer anderen Stadt findet. Nebenbei ist Santa Fe unverschämt reich. Daher sind guter Geschmack und Qualität hier eine Selbstverständlichkeit.
Auf der Suche nach dem St. John’s College, an dem meine Nichte studierte, fuhr ich die Berge hinauf. Es war vier Uhr nachmittags. Die Schatten auf den Straßen wurden länger und länger. Die Sonne versank gleich, hinter den Bergen, und die Adobe-Häuser an den Hängen ringsum leuchteten in bräunlichem Orange. Das St. John’s, ein kleines College mit gerade 300 Studenten, liegt in luftiger Höhe und bietet eine herrliche Aussicht auf Santa Fe und die Berge auf der anderen Seite. An diesem schönen Frühlingsnachmittag war der verschlafene Campus voller Studenten, doch meine Nichte war nicht dabei. Niemand konnte mir sagen, wo sie war, aber jeder versprach, ihr auszurichten, dass ein schmuddeliger, übergewichtiger Typ mit total verschwitzten Achseln und staubigen Schuhen nach ihr gefragt habe und am nächsten Morgen wiederkommen würde.
Ich fuhr in die Stadt zurück, nahm ein Zimmer und ein ausgiebiges Vollbad, zog mir saubere Sachen an und schlenderte dann glücklich und zufrieden durch die ruhigen Straßen von Downtown Santa Fe. Voller Bewunderung sah ich mir die Schaufenster der teuren Galerien und Boutiquen an, genoss die warme Abendluft und beunruhigte die Leute in den exklusiveren Restaurants, indem ich meine Nase gegen die Fensterscheiben
drückte und einen kritischen Blick auf ihre Teller warf. Das Herz von Santa Fe ist die Plaza, ein Platz im spanischen Stil mit weißen Bänken und einem Obelisken zum Gedenken an die Schlacht von Valverde, was immer sich dahinter verbergen mochte. Am Sockel hatte man eine Inschrift angebracht, auf der dem Graveur ein kleiner Fehler unterlaufen war: Statt February stand dort Febuary, was mich ungeheuer amüsierte. An einer Ecke der Plaza entdeckte ich das Ore House mit einem Restaurant im Parterre und einer Bar mit offener Veranda im Stockwerk darüber. Auf dieser Veranda verbrachte ich viele stille Stunden, trank das Bier, das mir eine freundliche, wohlgerundete Kellnerin brachte, genoss den milden Abend und beobachtete, wie die Sterne über den blassblauen Wüstenhimmel zogen. Durch die
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