Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Menschen in den Straßen wären praktisch unsichtbar, und nicht ein Laut würde bis nach oben dringen. Es ist die Stille, die einen überwältigt, die jeden überwältigt. Der Grand Canyon schluckt jedes Geräusch. Das Gefühl von Raum und Leere ist überwältigend. Nichts scheint sich darin zu rühren. Und unten, auf dem Grund des Canyons in weiter Ferne, liegt die Kraft, die ihn geschaffen hat: der Colorado River. Er ist neunzig Meter breit, wirkt aber von oben so schmal und unbedeutend wie ein alter Schnürsenkel. Neben dieser mächtigen Erdspalte wirkt alles andere zwergenhaft.
Und dann kehrte der Nebel zurück, ebenso schnell und lautlos wie er sich verzogen hatte, und der Grand Canyon war wieder geheimnisvoll verhüllt. Ich hatte ihn nicht länger als zwanzig oder dreißig Sekunden gesehen, aber wenigstens hatte ich ihn überhaupt gesehen. Einigermaßen zufrieden gestellt drehte ich mich um und trat den Rückweg zum Auto an. Unterwegs kam mir ein junges Paar entgegen. Sie fragten mich, ob ich Glück gehabt hätte, und ich berichtete, wie der Nebel sich für ein paar Sekunden geteilt hatte. Sie machten einen niedergeschlagenen Eindruck und erzählten mir, dass sie extra aus Ontario angereist waren, um den Grand Canyon zu sehen. Ihr ganzes Leben lang hatten sie davon geträumt. Es waren ihre Flitterwochen. Seit einer Woche zogen sie dreimal am Tag ihre Moonboots an und stapften Hand in Hand an den Rand des Canyons, aber alles, was sie bisher zu Gesicht bekommen hatten, war eine unbewegliche Nebelwand. »Aber ich wette«, sagte ich, um sie zu ermutigen, die Dinge von der positiven Seite zu betrachten, »ihr beide könnt euch die Zeit auch mit angenehmeren Dingen vertreiben.« Nein, das habe ich nicht wirklich gesagt, das habe ich für
mich behalten. Stattdessen gab ich ein paar mitfühlende Laute von mir, teilte ihre Meinung über das Wetter und wünschte ihnen Glück. In Gedanken noch immer bei den armen Hochzeitsreisenden erreichte ich das Auto. Mir fiel ein, wie mein Vater mich mal belehrt hatte: »Siehst du, Sohn, es gibt immer jemanden, der noch schlimmer dran ist als du.«
Ach nee, dachte ich da, was du nicht sagst.
Über den Highway 89 fuhr ich nach Norden in Richtung Utah. Und noch immer meldete das Radio schlechtes Wetter in den Rockies und Straßensperrungen wegen Steinschlag und Schnee. Im nördlichen Arizona jedoch schien es überhaupt nicht geschneit zu haben. Nirgends war eine Spur von Schnee zu sehen. Zehn Meilen hinter dem Grand Canyon verschwand er auf einmal aus der Landschaft, und nach weiteren zehn Meilen herrschte beinahe frühlingshaftes Wetter. Die Sonne kam durch, es wurde warm, und ich kurbelte das Fenster ein wenig herunter.
Ich fuhr und fuhr. So ist das im Westen. Man fährt und fährt und fährt, von einem entlegenen Städtchen zum nächsten. Das Land ist so karg und ausgebrannt wie der Neptun. Stunde um Stunde hat man nichts anderes im Sinn, als nach Dry Gulch oder Cactus City oder sonst wohin zu kommen. Da sitzt man und sieht zu, wie der Highway Meile um Meile vorübergleitet, während der Kilometerzähler mit der Langsamkeit von Jahrhunderten läuft. Und alles, woran man denkt, ist, nach Dry Gulch zu kommen, wo es hoffentlich ein McDonald’s oder wenigstens ein Café gibt. Und hat man Dry Gulch dann endlich erreicht, findet man dort nichts als eine Tankstelle mit zwei Zapfsäulen und einen Straßenstand, an dem eine alte Indianerin sitzt und Navajo-Schmuck verkauft. Und das Ganze beginnt wieder von vorn, nur dass man all sein Denken nun auf ein anderes entlegenes Kaff mit einem so entmutigenden Namen wie Coma, Doldrum, Dry Well oder Sunstroke konzentriert.
Die Entfernungen sind fast unvorstellbar. Ganze dreißig Meilen liegen oft zwischen einem Haus und dem nächsten und
hundert und mehr Meilen zwischen den einzelnen Ortschaften. Was bringt die Leute dazu, sich an einem Ort niederzulassen, von dem aus man fünfundsiebzig Meilen fahren muss, nur um ein Paar Schuhe zu kaufen?
Die Antwort auf meine Frage ist natürlich, dass kaum jemand an einem solchen Ort leben will, mit Ausnahme der Indianer, denen man ja noch nie viel Entscheidungsfreiheit gelassen hat. Ich fuhr nun durch das größte Indianerreservat Amerikas – ein Navajo-Reservat, das sich 150 Meilen von Nord nach Süd und 200 Meilen von Ost nach West erstreckt. In den meisten der paar Wagen, die auf dem Highway unterwegs waren, saß ein Indianer hinterm Steuer. Es handelte sich fast ausnahmslos um große, alte Wagen aus
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