Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Tabernakel oder wie immer sie ihre Gotteshäuser nennen. Das Bauwerk stammte von 1871 und sah aus, als würden alle Bürger der Stadt hineinpassen – und so wird es wohl auch sein, denn absolut jeder in Utah ist ein Mormone. Das
scheint nur so lange Besorgnis erregend, bis man begreift, dass Utah dadurch der einzige Ort auf Erden ist, in dem man nicht ständig damit rechnen muss, von einem jungen Mann angesprochen zu werden, der einen zum Mormonentum bekehren will. Jeder geht davon aus, dass man bereits einer von ihnen ist. Solange man sein Haar kurz geschnitten trägt und sich Unmutsäußerungen wie »Oh, shit!« in der Öffentlichkeit verkneift, kann man jahrelang unbehelligt mitten unter ihnen leben. Ich fühlte mich wie Kevin McCarthy in Die Körperfresser kommen.
Jenseits der Kirche säumten fast ausschließlich Wohnhäuser die Straßen. Nach den Regenfällen der letzten Tage waren ihre Gärten saftig grün. Es duftete nach Frühling, nach Flieder und frisch gemähtem Gras. Der Abend rückte heran. Dies war die beschaulichste Zeit des Tages. Die Leute hatten ihr Abendessen beendet, machten nun einen Rundgang durch ihre Gärten und bereiteten sich darauf vor, sich in Kürze ganz dem Nichtstun zu ergeben.
Selbst in den Wohnvierteln von St. George waren die Straßen so breit, wie ich es noch in keiner Stadt gesehen habe. Offensichtlich hegen Mormonen eine besondere Vorliebe für breite Straßen. Keine Ahnung, warum. Breite Straßen und jede Menge Frauen fürs Bett, das sind die Fundamente des Mormonentums. Als Brigham Young die Stadt Salt Lake City gründete, ordnete er mit als Erstes an, dass keine Straße unter dreißig Metern breit sein dürfe. Den Bürgern von St. George muss er etwas Ähnliches gesagt haben. Young kannte die Stadt gut – sein Winterhaus stand in St. George. Wenn ihre Bürger also in Sachen Straßenbau Nachlässigkeit erkennen ließen, war er sofort zur Stelle.
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Und hier eine Rätselfrage an Sie: Worin besteht der Unterschied zwischen Nevada und einer Toilette? Antwort: An einer Toilette kann man die Spülung ziehen.
Nevada hat die höchste Verbrechensrate in den Vereinigten Staaten. Konkreter: die höchste Vergewaltigungsrate, die zweithöchste Quote von Gewaltverbrechen (New York liegt um eine Nasenlänge voraus), die meisten Verkehrstoten, die zweithöchste Häufigkeit von Gonorrhöe (Spitzenreiter ist Alaska) und die meisten Zugezogenen – annähernd achtzig Prozent der Bevölkerung sind nicht in Nevada geboren. In Nevada leben mehr Prostituierte als in irgendeinem anderen Staat Amerikas. Die Geschichte der Korruption ist lang, das organisierte Verbrechen blüht. Und der beliebteste Entertainer im Staate Nevada ist Wayne Newton. Vielleicht verstehen Sie, warum ich die Staatsgrenze mit einer gewissen Beklommenheit überquerte.
Doch dann kam ich nach Las Vegas, und mein Unbehagen löste sich in Luft auf. Ich war wie geblendet. Es war spät am Nachmittag, die Sonne stand tief, das Thermometer zeigte über dreißig Grad, und auf dem Strip tummelten sich glückliche Urlauber. Nett und sauber gekleidet, die Taschen voller Geld, bummelten sie an den Kasinopalästen entlang. Alle wirkten gut gelaunt und irgendwie gesund. Ich hatte erwartet, dass es hier von Nutten und Spinnern in superlangen Cadillacs wimmeln würde, von Leuten, die weiße Lederschuhe tragen und sich die Schultern ihrer Jacketts auspolstern lassen. Doch dies waren Leute wie du und ich, in ordinäres Nylon gehüllt.
Ich nahm ein Motelzimmer am billigeren Ende des Strip, duschte ausgiebig, tanzte durch eine Puderwolke, zog mein sauberstes T-Shirt an und stürzte mich ins Getümmel, ganz kribbelig vor kindlicher Aufregung. Nach der tagelangen Fahrt durch die Wüste war ich auf ein wenig anregende Unterhaltung scharf, und davon gibt es in Las Vegas genug. Jetzt, in der ofentrockenen Hitze des frühen Abends, gingen allmählich die Lichter der Kasinos an, bis schließlich Millionen und Abermillionen von Lichtern blinkten, flitzten, wogten und explodierten und Wände aus Farbe und Bewegung bildeten. Und jedes einzelne Lichtlein buhlte um meine Aufmerksamkeit, um die Münzen in meiner Tasche. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Es war ein visueller Orgasmus, eine dreidimensionale Halluzination, ein Paradies für Elektriker. Es war genau, wie ich es mir vergestellt hatte, nur zehnmal so bombastisch.
Die Namen der Hotels und Kasinos klangen seltsam vertraut: Caesar’s Palace, das Dunes, das Sands, das Desert Inn. Was mich
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