Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
gewöhnt. Ich fühlte mich unbehaglich dabei. Außerdem verunsicherte mich, dass amerikanische Fernsehsender übergangslos zwischen Werbung und Programm hin und her schalten. Da verfolgt man gebannt, wie Kojak Verbrecher jagt, und mitten in einer wilden Schießerei beginnt jemand, eine Toilettenschüssel zu scheuern. Bis einem klar wird, dass es sich um einen Werbespot handelt, vergehen einige Sekunden, in denen man keine Ahnung hat, was zum Teufel da los ist. Und nun würden sie minutenlang Werbung zeigen.
Während einer Werbepause des amerikanischen Fernsehens kann man Zigaretten holen gehen, eine komplette Pizza verdrücken und hat, bis die Sendung fortgesetzt wird, immer noch Zeit genug, seine Toilettenschüssel zu scheuern.
Die Preparation-H-Werbung wurde ausgeblendet, und den Bruchteil einer Sekunde später, bevor der Zuschauer noch Gelegenheit hatte zu entscheiden, ob er nicht lieber auf einen anderen Kanal umschalten wollte, tauchte ein applaudierendes Publikum auf dem Bildschirm auf. Man hörte das muntere Geklimper von Hawaii-Gitarren und sah glückliche, festlich gekleidete Menschen mit leichtem Dachschaden. Die Sendung hieß Grand Ole Opry. Je länger ich den Gesängen und Späßen lauschte, desto tiefer sank mir in einer Art stumpfsinnigen Staunens die Kinnlade auf die Brust. Mir war, als wäre ich Zeuge einer Gehirnoperation. Haben Sie jemals ein Kind beim Spielen beobachtet und sich dabei die Frage gestellt, was wohl in seinem kleinen Kopf vorgehen mag? Dann sehen Sie sich irgendwann einmal fünf Minuten lang diese Sendung an, und Sie werden beginnen zu verstehen.
Wenige Minuten später riss mich die nächste Werbesendung aus meinem Dämmerzustand. Ich schaltete den Fernseher ab und machte mich auf den Weg, um Bryson City zu erkunden. Es gab mehr zu sehen, als ich erwartet hatte. Hinter dem Gerichtsgebäude entdeckte ich ein kleines Geschäftsviertel und stellte mit Genugtuung fest, dass fast jedes Unternehmen ein »Bryson City« in seinem Namen führte. Da gab es die Bryson-City-Wäscherei, die Bryson-City-Kohle- und Holzgesellschaft, die Bryson City Church of Christ, Bryson City Electronics, die Bryson-City-Polizei, die Bryson-City-Feuerwehr, das Bryson-City-Postamt. Allmählich wurde mir klar, was George Washington empfinden müsste, wenn er heute von den Toten auferstehen und in den District of Columbia zurückkehren würde. Ich weiß nicht, wer der Bryson war, den diese Stadt so offenkundig ehrte; ich kann nur sagen, dass ich noch nie einen Ort gesehen habe, in
dem mein Name so allgegenwärtig war. Ich bedauerte, weder ein Brecheisen noch einen Schraubenschlüssel zur Hand zu haben, denn viele Schilder hätten erstklassige Souvenirs abgegeben. Besonders gut gefiel mir das Schild der Bryson City Church of Christ, das ich gern neben meine Haustür in England gehängt hätte und dazu wöchentlich eine andere Botschaft, wie etwa »Die Zeit der Reue ist gekommen, o Engländer.«
Es dauerte nicht lange, und das Unterhaltungsangebot von Downtown Bryson City war erschöpft. Fast ohne es zu merken, befand ich mich wieder auf dem Highway und marschierte stadtauswärts in Richtung Cherokee, der nächsten Stadt in der Tiefebene. Ich folgte ihm ein Weilchen, doch außer heruntergekommenen Tankstellen und Imbissbuden gab es nichts zu sehen. Die Straße hatte so gut wie keinen Seitenstreifen, auf dem ich hätte laufen können, so dass die Autos im Abstand von wenigen Zentimetern an mir vorbeisausten und der Fahrtwind beängstigend an meiner Kleidung zerrte. Entlang der Straße standen Tafeln und handgeschriebene Schilder und priesen den Herrn: HALTET EUER LEBEN FEST – LOBET JESUS CHRISTUS, GOTT LIEBT DICH, AMERIKA, oder noch unergründlicher: WAS, WENN DU MORGEN STIRBST? (Na ja, dachte ich, dann zahlt wahrscheinlich niemand die Raten für die Tiefkühltruhe.) Ich kehrte um und ging in die Stadt zurück. Es war 17.30 Uhr, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, womit ich mir in Bryson City die Zeit vertreiben sollte.
Am Ufer des rauschenden Flusses erspähte ich einen A&P-Supermarkt. Er schien geöffnet zu haben. Weil ich nichts Besseres zu tun hatte, schlenderte ich darauf zu. Auch früher habe ich häufig die Zeit in Supermärkten totgeschlagen. Als wir ungefähr zwölf Jahre alt waren – und dermaßen unausstehlich, dass es eine wahre Wohltat gewesen wäre, uns ein tödliches Gift zu injizieren –, gingen Robert Swanson und ich im Sommer oft in den Hinky-Dinky-Supermarkt an der Ingersoll Avenue in
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