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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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schön gewesen sein, jetzt war es schmutzig und verwahrlost. Noch schlimmer war Cherokee selbst. Die Stadt liegt im größten Indianerreservat in der Osthälfte der Vereinigten Staaten und war voll gestopft mit Souvenirläden, die billigen Indianerschmuck feilboten. Auf den Dächern und an den Wänden stand unübersehbar zu lesen MOKASSINS! INDIANI-SCHER SCHMUCK! TOMAHAWKS! GESCHLIFFENE EDEL-STEINE! SCHEISSE ALLER ART! Vor einigen Läden hockte ein Braunbär in einem Käfig – das Maskottchen der Cherokee, wie ich vermutete. Rund um jeden Käfig hatten sich kleine Jungs versammelt und versuchten unter den Anfeuerungsrufen ihrer Väter, das Tier zu reizen, bis es einen Beweis seiner Wildheit zum Besten gab. In anderen Laden konnte man sich für fünf Dollar zusammen mit einem echten, aufgedunsenen und verkaterten Cherokee-Indianer in Kriegsaufmachung fotografieren lassen, was bei den Besuchern allerdings auf wenig Interesse zu stoßen schien, so dass die indianischen Fotomodelle zusammengesunken auf ihren Stühlen saßen und ebenso teilnahmslos wirkten wie die Bären. Soweit ich mich erinnern kann, bin ich niemals in einem auch nur annähernd so hässlichen Ort wie diesem gewesen. Doch auch hier traten sich die Touristen gegenseitig auf die Füße, und fast alle waren sie so unschön wie der Ort – fette, in schreienden Farben gekleidete Menschen, vor deren Bäuchen Kameras baumelten. Wie kommt es nur, dass alle Touristen fett sind und sich wie Schwachköpfe kleiden, fragte ich mich, während ich den Wagen durch die Menschenmenge lenkte.
    Noch bevor ich mich eingehender mit dieser Frage beschäftigen konnte, war ich aus Cherokee heraus und im Nationalpark,
und all die grellen Farben lagen hinter mir. In Amerika überlässt man das Land innerhalb eines Nationalparks den Kräften der Natur. So entsteht eine Wildnis – eine oft erzwungene Wildnis. Anders als in Großbritannien sind amerikanische Nationalparks unbewohnt. Einst waren die Smoky Mountains von Hinterwäldlern bevölkert. Sie lebten in Hütten in entlegenen Senken hoch oben in den Wolken. Als man das Land unter Naturschutz stellte, mussten sie das Gebiet räumen, so dass die Region heute frei von jeder menschlichen Behausung ist. Statt die traditionelle Lebensweise zu erhalten, machte die Parkverwaltung ihr den Garaus. Die enteigneten Hinterwäldler zogen in die Städte am Rande des Parks, lebten vom Verkauf minderwertiger Souvenirs und trugen entscheidend dazu bei, dass die Städte verwahrlosten. Dies scheint mir eine sehr fragwürdige Art, Probleme zu lösen. Einige der Hütten wurden als Museumsstücke konserviert. Ein solches Museumsstück befand sich in unmittelbarer Nähe des Visitors’ Centres am Parkeingang. Ich stellte den Wagen ab und sah mir die Hütte an. Sie unterschied sich nicht im Geringsten von den Hütten in New Salom, Illinois – das Dorf, in dem Lincoln gelebt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass ich unter einer Überdosis Blockhütten litt, doch je mehr ich mich der Hütte näherte, desto deutlicher spürte ich die ersten Anzeichen einer schmerzhaften Entzündung der Gehirnnerven. Daher trat ich umgehend den Rückzug zum Auto an.
    Die Smoky Mountains selbst waren ein Genuss. Es war ein perfekter Oktobermorgen. Die Straße führte steil bergauf, durch dichte, von Sonnenlicht gefleckte Laubwälder, durchzogen von Bächen und Pfaden, um dann in luftiger Höhe den Blick auf die atemberaubende Gebirgslandschaft freizugeben. Überall entlang der Straße durch den Park hatte man Parkbuchten angelegt. Dort konnte man das Auto abstellen und mit Ausrufen wie »Ooh!« und »Wow!« seiner Verzückung angesichts des Panoramas Ausdruck verleihen. Alle Aussichtspunkte waren nach Gebirgspässen
benannt, deren Namen eher nach Appartementhäusern für Yuppies klangen – Pigeon Gap, Cherry Cove, Wolf Mountain, Bear Trap Gap. Die Luft war klar und dünn, und die Sicht reichte bis zum Horizont. Bis weit in die Ferne türmten sich die Berge und gingen von saftigem Grün und dunklem Blau allmählich in dunstiges Grau über. Vor mir lag ein Meer aus Bäumen – so jungfräulich wie eine Landschaft in Kolumbien oder Brasilien. In dieser wogenden Weite deutete nichts auf die Anwesenheit des Menschen hin. Es gab keine Städte, keine Wassertürme, keine Rauchfahnen über entlegenen Gehöften. Nur unendliche Ruhe unter einem strahlenden Himmel. Eine einsame Kumuluswolke bauschte sich in weiter Ferne und ließ ihren Schatten über einen Berg

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