Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Minuten Seelenfrieden in Beaufort, South Carolina. Ich schlenderte zu einem kleinen Park und zum Yachthafen, der dem Anschein nach erst vor kurzem angelegt worden war. Erst zum vierten Mal im Leben sah ich den Atlantik von dieser Seite. Ein Landei aus dem Mittleren Westen verschlägt es nicht eben oft an einen der Ozeane. Im Park wimmelte es von Verbotsschildern. Im Abstand von nur wenigen Metern wurde man davon in Kenntnis gesetzt, dass jegliches ungebührliche Verhalten sowie Vergnügungen aller Art zu unterlassen seien: BADEN UND TAUCHEN AN DER KAIMAUER VERBOTEN. FAHRRADFAHREN IM PARK VERBOTEN. WER BLUMEN, PFLANZEN, BÄUME ODER STRÄUCHER ENTFERNT ODER BESCHÄDIGT, WIRD BESTRAFT. DER KONSUM ODER DAS MITFÜHREN VON BIER, WEIN ODER ANDEREN ALKOHOLISCHEN GETRÄNKEN IST IN STÄDTISCHEN PARKS NUR MIT SONDERGENEHMIGUNG DER
STADT GESTATTET. ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN STRAFRECHTLICH VERFOLGT. Anscheinend hatte im Stadtrat von Beaufort ein kleiner Stalin das Sagen. Noch nie habe ich eine Stadt mit so feindselig gesinnten Behörden erlebt. Augenblicklich verging mir die Lust, länger an diesem ungastlichen Ort zu verweilen. Ich stieg ins Auto und fuhr weiter. Eigentlich ein Jammer, denn laut Parkuhr standen mir noch zwölf Minuten zu.
Dementsprechend kam ich zwölf Minuten früher als geplant in Charleston an, was sich als vorteilhaft erweisen sollte. War bislang Savannah mein persönlicher Spitzenreiter der schönsten amerikanischen Städte gewesen, so rutschte die Stadt kurz nach meiner Ankunft in Charleston auf den zweiten Platz ab. Unweit des Hafens erstreckt sich Charleston über eine abgerundete Halbinsel, auf der sich, entlang schnurgeraden, schattigen Straßen, ein schönes, altes Haus an das andere reiht. Wie überdimensionale Bücher auf einem voll gepackten Regalbord stehen sie da. Einige der Häuser sind mit einer Fülle von Ornamenten geschmückt, ganz im viktorianischen Stil und so fein ziseliert wie eine Spitzenborte. Dazwischen mischen sich schlichte weiße Schindelhäuser mit schwarzen Fensterläden. Keines der Häuser hat weniger als drei Stockwerke. Durch ihre Nähe zur Straße wirken sie umso höher und noch eindrucksvoller. Zwar sah ich vor fast jedem Haus einen vietnamesischen Gärtner, der sich hingebungsvoll um einen Rasenflecken von der Größe einer Tischdecke kümmerte, doch richtige Gärten gibt es dort so gut wie gar nicht. Aus diesem Grund spielen die Kinder auf der Straße, während auf den Treppen vor den Eingangstüren Frauen sitzen und schwatzen. Und alle sind sie weiß und jung und reich – ein Anblick, den man in Amerika nicht erwartet. Kinder wohlhabender Eltern spielen in Amerika nicht auf der Straße; das haben sie nicht nötig. Sie faulenzen am Swimmingpool oder spielen in der 3000-Dollar-Baumhütte, die Daddy ihnen zum neunten Geburtstag gebaut hat. Und wenn
ihre Mütter mit einer Nachbarin plaudern wollen, dann tun sie das am Telefon oder steigen in ihren Kombi mit Klimaanlage und fahren die hundert Meter. Ich begann zu begreifen, wie sehr Autos und Vorstädte – und unverarbeiteter Wohlstand – das Leben in Amerika verdorben haben. Das Klima und die Atmosphäre von Charleston erinnern an Neapel, während man in Reichtum und Lebensart die amerikanische Großstadt wiedererkennt. Ich war entzückt und wanderte den ganzen Nachmittag die friedlichen Straßen auf und ab. Im Stillen bewunderte ich diese gut aussehenden Menschen, die so unglaublich glücklich wirkten, ihre wundervollen Häuser und ihr reiches, perfektes Leben.
Im Park an der Spitze der Halbinsel tobten Kinder auf ihren BMX-Rädern herum, Pärchen spazierten Hand in Hand, und Frisbeescheiben segelten durch die Luft, während in der untergehenden Sonne die Schatten der Magnolienbäume länger und länger wurden. Um mich herum sah ich nur jugendliche, attraktive und gut gekleidete Menschen. War ich in einen Werbespot für Pepsi Cola geraten? Von der breiten Uferpromenade außerhalb des Parks reichte der Blick über den grünen Fluss bis zum Hafen. Das Wasser schwappte gegen die Steine und roch nach Fisch. In einer Entfernung von zwei Meilen konnte ich die Insel Fort Sumter erkennen. Dort hatte der Bürgerkrieg begonnen. Die Promenade war von Radfahrern und schwitzenden Joggern bevölkert, die sich gekonnt an Fußgängern und Touristen vorbeischlängelten. Ich kehrte um und ging zum Auto zurück. Während mir die Sonne warm auf den Rücken schien, beschlich mich das unbestimmte Gefühl, dass es nach einer solchen
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