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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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pittoresken Charme, dem sich selbst ein so abgebrühter Kerl wie der Autor dieser Erzählung nicht entziehen konnte.
    Wie fragwürdig Williamsburg auch als Dokument amerikanischer Geschichte sein mag – und seine Fragwürdigkeit in dieser Beziehung steht außer Frage –, es ist zumindest ein mustergültiges Städtchen. Erst hier erkennt man, wie unermesslich reizvoll weite Teile dieses Landes sein könnten, wenn die Menschen in Amerika nur ebenso viel Sinn für die Erhaltung historischer Stadtlandschaften aufbrächten wie in Europa. Man möchte meinen, dass all die Millionen von Besuchern, die Jahr für Jahr über Williamsburg hereinbrechen, sich begeistert zurufen: »Mein Gott, Bobbi, ist das schön hier. Lass uns nach Hause fahren und Bäume pflanzen und all die schönen, alten Häuser erhalten.« Aber so läuft das nicht in Amerika. Die Leute fahren heim nach Smellville oder sonst wohin und bauen weiter ihre Parkplätze und Pizza Huts.
    Vieles in Williamsburg ist längst nicht so alt, wie man uns glauben machen will. Achtzig Jahre lang, von 1699 bis 1780, war das Städtchen die Hauptstadt des kolonialen Virginia. Doch als
die Kolonialregierung nach Richmond verlegt wurde, ging es mit der Stadt zunehmend bergab. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts entdeckte John D. Rockefeller seine Leidenschaft für Williamsburg und begann, sein Geld in die Restaurierung zu stecken – so um die 90 Millionen Dollar. Heutzutage kann man kaum mehr unterscheiden, was echt und was der Fantasie entsprungen ist. Nehmen wir den Gouverneurspalast. Er scheint uralt zu sein – und, glauben Sie mir, niemand wird Sie vom Gegenteil überzeugen wollen –, stammt aber aus dem Jahr 1933. Das ursprüngliche Bauwerk brannte 1781 nieder. Wäre da nicht in der Bodleian Bibliothek in Oxford eine Zeichnung des Palastes aufgetaucht, die zumindest den Versuch einer Rekonstruktion ermöglichte, hätte im Jahre 1930 sicher niemand mehr sagen können, wie das Gebäude einmal ausgesehen hat. Jedenfalls ist der Palast alles andere als alt und womöglich nicht einmal originalgetreu.
    Überall Fälschung und Schwindel, wohin man auch sah. Die Grabsteine an der Bruton Parish Church waren offensichtlich manipuliert, zumindest hatte man die Inschriften aufgefrischt. Irgendwer, ob Rockefeller oder sonst jemand, musste sich daran gestört haben, dass Grabsteine im Laufe der Jahrhunderte verwittern und unleserlich werden. Jedenfalls hatte man dafür gesorgt, dass die Inschriften wieder in alter Frische erstrahlen, als wären sie erst letzte Woche in den Stein gehauen worden, was denn auch durchaus denkbar ist. Auf Schritt und Tritt verfolgt einen die Frage, ob man nun ein authentisches Stück Geschichte oder schmückendes Beiwerk à la Disney World vor sich hat. Gab es diesen Severinus Dufray wirklich? Und, wenn ja, würde er ein Schild mit der Aufschrift »Vornehme Schneiderei« vor sein Haus gehängt haben? Möglicherweise. Ob vor der Apotheke von Dr. McKenzie tatsächlich ein Schild in leuchtenden Lettern verkündete: »Dr. McKenzie bittet um die gütige Erlaubnis, die Öffentlichkeit davon in Kenntnis setzen zu dürfen, dass er soeben große Mengen erstklassiger Ware erhalten hat, die in
seinem Laden VERKAUFT wird, als da wären Tee, Kaffee, Seife, Tabak, etc.:«? Wer weiß.
    Thomas Jefferson, ein zweifellos mit Feingefühl begabter Mann, mochte Williamsburg ganz und gar nicht und fand es sogar hässlich. (Auch davon erfährt man hier nichts.) Für das College und das Krankenhaus fand er Worte wie »primitive, unförmige Kästen«, den Gouverneurspalast nannte er »unschön«. Er muss von einem anderen Ort geredet haben, denn das Williamsburg von heute ist außerordentlich schön. Und deshalb mochte ich es.

    Ich fuhr weiter nach Mount Vernon. Hinter diesem Namen verbirgt sich das Haus, in dem George Washington die meisten Jahre seines Lebens zu Hause war. Washington hat seinen Ruhm verdient. Was er als Oberbefehlshaber der amerikanischen Revolutionstruppen geleistet hat, war gewagt und verwegen, um nicht zu sagen meisterhaft. Seine Kritiker vergessen leicht, dass der Unabhängigkeitskrieg sich über acht Jahre hinzog. In dieser Zeit konnte Washington nicht immer auf rückhaltlose Unterstützung rechnen. Von einer Gesamtbevölkerung von 5,5 Millionen Menschen dienten zeitweise ganze 5000 Soldaten in seiner Armee. Auf 1100 Menschen kam also gerade ein Soldat. Wer einmal in Mount Vernon war und weiß, welch ein beschaulicher und schöner Ort das ist und

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