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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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beenden, nur weil man ihn irgendwie unsympathisch findet. Ich dachte an meine Lehrerin in der vierten Klasse, Miss Bietlebaum. Sie hatte Haare auf den Zähnen und eine schwarze Seele. Nun stellte ich mir vor, wie sie auf dem Boden neben ihrem Pult lag, für immer zum Schweigen gebracht, während ich mit einem rauchenden Colt in der Hand über ihr stand. So gesehen eröffneten sich mir ganz neue Perspektiven.
    In dem Restaurant, in dem wir dann eine Kleinigkeit aßen, machte ich eine weitere Entdeckung, die mir zu denken gab. Betraten Weiße das Restaurant, nahmen sie ganz selbstverständlich am Tresen Platz. Schwarze dagegen gaben ihre Bestellung auf und stellten sich an die Wand. War ihr Essen fertig, überreichte man es ihnen in einer Papiertüte, die sie dann mit nach draußen nahmen. Mein Vater erklärte uns, Negern sei es in Washington nicht gestattet, sich zum Essen an den Tresen zu setzen. Es verstieß nicht direkt gegen das Gesetz, sie taten es nur eben nicht. Washington hatte sich so viel vom Flair des Südens bewahrt, dass sie es einfach nicht wagten. Auch das schien mir geradezu absurd und stimmte mich noch nachdenklicher.
    Als ich später im heißen Hotelzimmer wachlag und der rastlosen Stadt lauschte, versuchte ich, die Welt der Erwachsenen zu verstehen, aber es gelang mir nicht. Ich hatte immer geglaubt,
als Erwachsener könne man tun und lassen, was man will, man könne die ganze Nacht aufbleiben und Eis direkt aus der Packung essen. Doch nun, an diesem für mein weiteres Leben so bedeutsamen Abend, begann ich zu begreifen, dass man sich sehr wohl gewissen Regeln unterwerfen muss, wenn man vermeiden will, dass einem eines Tages irgendwer in den Kopf schießt oder mit dem Essen in der Hand vor die Tür schickt. Ich stützte mich auf meinen Ellbogen und fragte meinen Dad, ob es auch Orte gäbe, in denen Schwarze die Restaurants betrieben und die Weißen an der Wand auf ihr Essen warten ließen.
    Mein Dad betrachtete mich über den Rand seines Buches hinweg und antwortete, dass er das für unwahrscheinlich halte. Ich fragte ihn, was passieren würde, wenn sich ein Neger an den Tresen setzen würde, obwohl er das eigentlich nicht tun sollte. Was würden sie mit ihm machen? Mein Dad sagte, das wisse er auch nicht, und ich solle jetzt schlafen und mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Ich legte mich wieder hin und dachte, dass sie ihn vermutlich erschießen würden. Dann rollte ich mich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Aber ich konnte nicht schlafen, zum einen, weil es so heiß und ich so durcheinander war, und zum anderen, weil ich befürchten musste, dass mein Bruder an mein Bett kommen und mir Popel ins Gesicht schmieren würde, sobald ich schlief. Das hatte er mir nämlich angedroht, als ich ihn im Stadion nicht von meinem Rosinenbrot beißen ließ, und ich muss zugeben, dass mich diese Aussicht ziemlich beunruhigte, auch wenn er jetzt friedlich zu schlummern schien.
    Seit jenen Tagen hat sich sicherlich vieles auf dieser Welt verändert. Wer heute des Nachts wach in einem Hotelzimmer liegt, hört nichts mehr von der Stadt. Alles, was er hört, ist das Rauschen der Klimaanlage. Ob in einem Jet hoch über dem Pazifik oder in einer Tauchkugel auf dem Grund der Meere – überall gibt es Klimaanlagen, und die Luft ist so kühl und so sauber wie ein frisch gewaschenes Hemd. Nur noch selten wischen sich die
Leute den Schweiß von der Stirn oder trinken schwitzend kalte Limonade oder legen ihre nackten Arme dankbar auf den kühlen Marmortisch eines Cafés, denn heutzutage lässt man die Sommerhitze irgendwo da draußen zurück und setzt sich ihr nur noch für Minuten aus, wenn man vom Parkplatz ins Büro oder vom Büro ins Restaurant um die Ecke flitzt. Heutzutage sitzen auch Schwarze an den Tresen der Restaurants, was zur Folge hat, dass ein Sitzplatz nicht mehr so leicht zu bekommen ist, aber immerhin, es geht gerechter zu. Niemand sieht sich mehr ein Spiel der Washington Senators an, denn die Washington Senators gibt es nicht mehr. 1972 hat der Besitzer die Mannschaft nach Texas verlegt, weil es dort mehr Geld zu verdienen gab. Leider. Die für mich persönlich vielleicht wichtigste Veränderung ist jedoch, dass mein Bruder mir nicht mehr androht, mir Popel ins Gesicht zu schmieren, wenn ich ihn geärgert habe.
    Washington kam mir wie eine Kleinstadt vor, ist aber mit seinen drei Millionen Einwohnern die siebtgrößte Stadt der Vereinigten Staaten. Rechnet man das benachbarte Baltimore hinzu,

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