Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
diesen Gedenktafeln gibt es Tausende in Amerika, und allesamt sind sie langweilig. Ich kann das mit Bestimmheit sagen, weil mein Vater vor jeder einzelnen Tafel zu halten pflegte. Er lenkte den Wagen direkt davor und las laut, was darauf geschrieben stand, ob es uns interessierte oder nicht. Das hörte sich dann ungefähr so an:
DIE HEILIGE BEGRÄBNISSTÄTTE DER SINGENDEN BÄUME
Jahrhundertelang war dieses Land, bekannt als das Tal der Singenden Bäume, eine heilige Begräbnisstätte der Blackbutt-Indianer. Aus diesem Grund gab die US-Regierung das Land im Jahr 1880 dem Stamm unwiderruflich zurück.
Als man dann jedoch im Jahr 1882 unter den Singenden Bäumen auf Öl stieß und 27 413 Blackbutts bei einer Reihe von blutigen Auseinandersetzungen ihr Leben ließen, wurde der Stamm in ein Reservat bei Cyanide Springs, New Mexico, umgesiedelt.
Was rede ich da? So gut war nicht eine dieser Tafeln. Im Allgemeinen gedachten sie einer völlig unbedeutenden und uninteressanten Begebenheit – dem Sitz der ersten Bibelschule im westlichen Tennessee, dem Geburtsort des Erfinders des Wasserklosetts, dem Haus des Komponisten der Hymne von Kansas. Noch bevor man eine dieser Gedenktafeln erreicht hatte, wusste man, dass sie langweilig sein würde, denn wäre sie auch nur im Entferntesten interessant, würde dort längst jemand einen Hamburger-Stand betreiben oder Souvenirs verkaufen. Doch Dad blühte jedes Mal auf und ließ sich stets aufs Neue beeindrucken. Nachdem er uns die Gedenkschrift vorgelesen hatte, würde er ein bewunderndes »Donnerwetter!« von sich geben, zurück zum Highway fahren und beim Einscheren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem entgegenkommenden Truck in die Quere geraten, der dann ein wütendes Hupkonzert anstimmen und bei dem nun folgenden Ausweichmanöver einen Teil seiner Ladung verlieren würde. »Ja, das war wirklich sehr interessant«, würde Dad nachdenklich hinzufügen, ohne sich bewusst zu sein, dass er uns soeben beinahe ins Jenseits befördert hätte.
Ich war auf dem Weg zum Booker T. Washington National Monument, eine restaurierte Plantage in der Nähe von Roanoke, auf der Booker T. Washington aufgewachsen war. Ein bemerkenswerter Mann. Der einstige Sklave hatte sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht, sich weitergebildet und schließlich das Tuskegee Institute in Alabama gegründet, das erste College für Schwarze in den Vereinigten Staaten. Doch damit nicht genug. Anschließend machte er Karriere als Soulmusiker und
produzierte in den sechziger Jahren unter der Plattenfirma Stax einen Hit nach dem anderen. Wie gesagt, ein bemerkenswerter Mann. Ich hatte die Absicht, seine Plantage zu besichtigen und dann nach Monticello weiterzufahren, um mir dort in aller Ruhe das Haus von Thomas Jefferson anzusehen. Doch es sollte anders kommen. Kurz hinter Patrick Springs sichtete ich eine Nebenstraße, die zu einem Ort mit Namen Critz führte. Nach einem flüchtigen Blick auf die Karte rechnete ich mir aus, dass diese Strecke gut dreißig Meilen kürzer sein musste als meine ursprüngliche Reiseroute. Spontan riss ich das Lenkrad herum und bog in die Nebenstraße, wobei ich das Quietschen der Reifen nachahmte. (Ich musste dieses Geräusch selbst erzeugen, da der Chevette damit eindeutig überfordert war. Immerhin stieß er ein paar blaue Rauchwolken aus.)
Ich hätte es besser wissen müssen. Auf Reisen lautet meine oberste Devise, niemals einen Ort anzusteuern, dessen Name sich wie ein körperliches Gebrechen anhört. Der Name Critz klang wie eine unheilbare Krankheit mit Hautausschlag. Es lief darauf hinaus, dass ich mich hoffnungslos verfuhr. Sobald ich den Highway aus den Augen verloren hatte, löste sich die Straße in ein Gewirr unbeschilderter Feldwege auf, alle umgeben von mannshohem Gras. Eine Ewigkeit irrte ich darin umher. Mich überkam diese wilde, krankhafte Verbissenheit, die einen befällt, wenn man sich verfahren hat und meint, man müsse nur lange genug umherirren, um irgendwann sein Ziel zu erreichen. Immer wieder kam ich durch Ortschaften, die nicht auf meiner Karte verzeichnet waren Sanville, Pleasantville, Preston. Das waren keine Zwölf-Seelen-Gemeinden. Das waren richtige Städte, mit Schulen, Tankstellen und vielen, vielen Häusern. Ich begann bereits zu erwägen, die Zeitung von Roanoke anzurufen und dem Herausgeber mitzuteilen, ich hätte einen verlorenen Bezirk entdeckt.
Als ich schließlich zum dritten Mal durch Sanville fuhr, beschloss ich, jemanden
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