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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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wie angenehm Washington dort gelebt hat, muss sich fragen, warum er dort nicht zur Ruhe kam. Aber gerade das Rätselhafte an ihm macht ihn so interessant. Wir wissen nicht einmal genau, wie er aussah. Fast alle Porträts stammen von Charles Willson Peale oder sind Kopien seiner Arbeiten. Peale malte sechzig Porträts von Washington. Leider waren Gesichter nicht gerade seine Stärke. Laut Samuel Eliot Morison sind sich Peales Gemälde von Washington, Lafayette und John Paul Jones allesamt so ähnlich, als stellten sie mehr oder weniger ein und dieselbe Person dar.
    Mount Vernon erfüllte all die Erwartungen, die in Williamsburg
unbefriedigt geblieben waren. Es war authentisch, interessant und informativ. Seit weit über einem Jahrhundert kümmert sich die Mount Vernon Ladys’ Association um die Erhaltung des Anwesens. Als das Haus 1853 zum Verkauf stand und sich erstaunlicherweise weder die Bundesregierung noch der Staat Virginia bereitfanden, es zu erwerben, tat sich eine Gruppe hingebungsvoller Frauen zusammen und gründete die Mount Vernon Ladys’ Association. Sie trieben die erforderlichen finanziellen Mittel auf, kauften das Haus und ein über achtzig Hektar großes Grundstück und machten sich daran, das Ganze minuziös wie zu Washingtons Lebzeiten herzurichten – vom Außenanstrich bis zum Tapetenmuster. Wie gut, dass John D. Rockefeller das Haus nicht in die Finger bekam. Mount Vernon wird von der Association bis heute mit so viel Hingabe und Sachverstand geführt, dass sich die Konservatoren historischer Stätten im ganzen Land ein Beispiel daran nehmen sollten. Vierzehn Zimmer sind der Öffentlichkeit zugänglich. In jedem Zimmer erteilt ein gut informierter Freiwilliger Auskunft über alles Wissenswerte und weiß auf fast jede Frage eine Antwort. Washington war maßgeblich an der Gestaltung des Hauses beteiligt. Selbst wenn er sich auf einem Feldzug befand, kümmerte er sich auch um die belanglosesten Fragen des Dekors. Die Vorstellung, wie er mit seinen Truppen, halb tot vor Hunger und Kälte, im Valley Forge saß und sich den Kopf über die Anschaffung von Spitzenborten und Teewärmern zerbrach, war irgendwie rührend. Welch ein großartiger Kerl. Welch ein Held.

12
    Ich übernachtete in der näheren Umgebung von Alexandria und fuhr am nächsten Morgen weiter nach Washington. In meiner Kindheit hatte ich Washington als heiße, schmutzige und von Presslufthämmern dröhnende Stadt erlebt. Damals herrschte diese stickige Sommerhitze, wie man sie von amerikanischen Großstädten vor der Zeit der Klimaanlagen kennt. Von früh bis spät suchten die Menschen Schutz vor der Hitze. Sie wischten sich mit riesigen Taschentüchern den Schweiß von der Stirn, tranken kalte Limonade und hingen lustlos vor geöffneten Kühlschränken oder laufenden Ventilatoren herum. Nicht einmal die Nächte brachten Linderung. Draußen, wo sich gelegentlich ein Lüftchen regte, war es auszuhalten. Doch drinnen war die Hitze unerträglich. Sie stand schwer und drückend im Raum. Es war, als säße man in der Filtertüte eines Staubsaugers. Ich kann mich daran erinnern, wie ich in einem Hotelzimmer in Downtown Washington wachlag und den Geräuschen der Augustnacht lauschte. Durch das offene Fenster drang der Lärm von Sirenen und Autohupen und das Geräusch des Neongases, das in das Hotelschild strömte. Ich hörte, wie der Verkehr vorbeirauschte, wie Menschen lachten und schrien und wie Menschen erschossen wurden.
    Einmal sahen wir einen Mann, der in einer schwülen Nacht im August erschossen worden war. Wir hatten im Griffith Stadion miterlebt, wie die Washington Senators die New York Yankees mit 4:3 schlugen und wollten anschließend noch einen Happen essen gehen, da sahen wir zwischen Unmengen von
Beinen einen Schwarzen in einer Blutlache liegen. Damals dachte ich, es wäre Öl, aber es war natürlich Blut, das aus dem Loch in seinem Kopf floss. Meine Eltern schoben uns schnell beiseite und sagten, wir sollten nicht hinsehen, was wir natürlich doch taten. So etwas bekam man in Des Moines nicht zu Gesicht, also gafften wir uns die Augen aus dem Kopf. Bis dahin waren mir Morde nur im Fernsehen begegnet, in Filmen wie Gunsmoke und Dragnet. Ich hielt sie für ein erzählerisches Mittel, mit dessen Hilfe man Geschichten spannender gestalten konnte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, es könne auch im wirklichen Leben vorkommen, dass ein Mensch einen anderen umbringt. Für meine Begriffe war es geradezu absurd, jemandes Leben zu

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