Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
zersetzten Feststoffen, sich eines Tages selbst entzündete und in Flammen stand. Das Feuer geriet außer Kontrolle und wütete vier Tage lang. Auch das ist eine beachtliche Leistung, wie ich finde. Es heißt, die Dinge hätten sich inzwischen
gebessert. Während einer Kaffeepause in der Nähe von Ashtabula las ich in der Cleveland Free Press, dass ein offizielles Gremium mit dem stolzen Namen International Joint Commission’s Great Lakes Quality Board soeben seinen Untersuchungsbericht über die im Lake Erie enthaltenen chemischen Substanzen veröffentlicht hatte. Daraus ging hervor, dass gegenüber den mehr als tausend Chemikalien bei der letzten Messung nun lediglich 362 verschiedene Sorten gefunden worden waren. Das schien mir immer noch schrecklich viel zu sein. Mit einiger Verwunderung sah ich zwei Angler am Ufer stehen. Sie kauerten im Nieselregen und schleuderten ihre Angelschnüre in die grünliche Brühe. Wahrscheinlich fischten sie nach Chemikalien.
Bei trübem Regenwetter erreichte ich die ersten Vororte von Cleveland. Ich fuhr vorbei an Hinweisschildern zu Orten mit Namen wie Richmond Heights, Maple Heights, Garfield Heights, Shaker Heights, University Heights, Warrensville Heights, Parma Heights. Man hätte meinen mögen, man befände sich in einer mit Anhöhen übersäten Landschaft. Kurioserweise war das charakteristischste Merkmal dieser Gegend aber gerade ihre außerordentliche Plattheit. Was man in Cleveland heights nannte, verdiente diese Bezeichnung anderswo sicher nicht. Nach einer Weile wurde die Interstate 90 zum Cleveland Memorial Shoreway und führte am Ufer des Sees entlang. Spritzend zischten die Autos an mir vorbei. Die Scheibenwischer des Chevette arbeiteten unermüdlich. Jenseits meines Fensters breitete sich dunkel und gewaltig der See aus und verschwand schließlich im Dunst, während vor mir die Skyline von Downtown Cleveland näher und näher rückte. Cleveland hatte schon immer den Ruf einer schmutzigen, hässlichen und langweiligen Stadt. Aber auch das soll sich inzwischen geändert haben. Das behaupten zumindest Korrespondenten so seriöser Blätter wie Wall Street Journal, Fortune und New York Times Sunday Magazine. Sie kommen alle fünf Jahre einmal in die Stadt und schreiben dann lange Artikel mit Titeln wie »Cleveland lässt sich nicht
unterkriegen« oder »Die Renaissance von Cleveland«, die von keinem Menschen gelesen werden. Am allerwenigsten von mir. Ich kann also nicht beurteilen, ob die unwahrscheinliche und sehr relative Behauptung, Cleveland hätte sich zu seinem Vorteil verändert, richtig oder falsch ist. Was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass von der Freeway-Brücke über den Cuyahoga nichts als rauchende Fabrikschlote zu sehen waren. Von hier bot die Stadt weder einen sauberen noch einen schönen Anblick. Und auch was ich andernorts von Cleveland zu Gesicht bekam, hat mich nicht gerade vom Hocker gehauen. Vielleicht war die Stadt nicht mehr so unansehnlich wie früher, aber dieses ganze Gerede von einer Renaissance war eindeutig übertrieben. Würde man den Herzog von Urbino wieder zum Leben erwecken und nach Downtown Cleveland verfrachten, würde er wohl kaum ausrufen: »Mein Gott, ich fühle mich ins Florenz des fünfzehnten Jahrhunderts versetzt!«
Und dann lag Cleveland mit einem Mal hinter mir, und ich rollte über den James W. Shocknessy Ohio Turnpike durch die ländliche Leere zwischen Cleveland und Toledo. Der Stumpfsinn der Highways hatte mich wieder. Im Kampf gegen die Langeweile schaltete ich das Radio ein. Eigentlich hatte ich es den ganzen Tag ein- und ausgeschaltet, hatte ihm eine Weile zugehört und es dann entmutigt wieder zum Schweigen gebracht. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, welch eine Verzweiflung einen überkommt, wenn man im Laufe von drei Stunden zum vierzehnten Mal Hotel California von den Eagles hört. Man spürt förmlich, wie sich eine Gehirnzelle nach der anderen mit einem kleinen Plupp in Luft auflöst. Dass die Radioprogramme so unerträglich sind, liegt einzig und allein an den Discjockeys. Gibt es irgendwo einen Menschenschlag, der noch lästiger und noch beschränkter ist als Discjockeys? In Südamerika lebt ein Indianerstamm namens Janarnanos. Die Janamanos sind so zurückgeblieben, dass sie nicht einmal bis drei zählen können. Bei ihnen hört sich das so an: »Eins, zwei ... oh
Mann, oh Mann – ein ganzer Haufen.« Discjockeys mögen sich geschmackvoller kleiden und auch über
Weitere Kostenlose Bücher