Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
fällt mir dann wesentlich leichter zu gehen, ohne ein Trinkgeld zu hinterlassen.
Als ich am nächsten Morgen früh erwachte, spürte ich diese Unlust, die einen überkommt, wenn man die Augen aufschlägt und begreift, dass einen kein normaler Tag mit all seinen kleinen Freuden erwartet, sondern ein Tag ohne jegliche Vergnüglichkeiten – ein Tag, an dem einem eine Fahrt quer durch Ohio bevorsteht.
Ich seufzte und stand auf. Mit der Haltung eines alten Mannes schlurfte ich durchs Zimmer, packte meine Sachen, wusch mich, zog mich an und begab mich ohne Begeisterung auf den Highway. Ich fuhr in Richtung Westen, durch die Alleghenies,
und durchquerte dann einen entlegenen Zipfel von Pennsylvania. Auf einer Länge von 200 Meilen besteht die Grenze zwischen New York und Pennsylvania aus einer geraden Linie, doch in der nordwestlichen Ecke, in der ich mich nun befand, schwenkt sie so abrupt nach Norden, als hätte man dem Arm des Zeichners einen Stoß versetzt. Diese kleine kartografische Unregelmäßigkeit ergab sich dadurch, dass man Pennsylvania einen eigenen Zugang zum Lake Erie zugestand und den Staat auf diese Weise von den Verkehrswegen seines Nachbarstaates New York unabhängig machte. So belegt dieser Zipfel bis heute, wie wenig Vertrauen die einzelnen Staaten vor 200 Jahren in die Union hatten. Dass die Union dann tatsächlich funktionierte, war eine wesentlich größere Leistung, als man es heutzutage im Allgemeinen zu schätzen weiß.
Kaum war ich in Pennsylvania, mündete der Highway in die Interstate 90. Sie ist die wichtigste Ost-West-Achse im Norden Amerikas und erstreckt sich über 3016 Meilen von Boston bis nach Seattle. Dementsprechend sind dort viele Reisende unterwegs, die lange Strecken vor oder hinter sich haben. Sie sehen aus, als hätten sie ihr Auto seit Wochen nicht verlassen, und sind daher unschwer von den anderen Autofahrern zu unterscheiden. Zwar erhascht man im Vorbeifahren nur einen flüchtigen Eindruck von ihnen, doch der reicht aus, um zu sehen, wie häuslich sie sich in ihren Wagen eingerichtet haben – Wäschestücke hängen zum Trocknen, Überreste von Mahlzeiten stapeln sich auf der Hutablage, und überall liegen Bücher, Zeitschriften und Kissen herum. Auf dem Beifahrersitz schläft grundsätzlich eine dicke Frau mit weit geöffnetem Mund, während auf dem Rücksitz eine Hand voll Kinder allmählich durchdreht. Während die beiden Wagen aneinander vorüberziehen, tauscht man mit dem Vater gelangweilte, aber nicht unfreundliche Blicke aus, schaut kurz auf das Nummernschild des jeweils anderen und empfindet Neid oder Mitgefühl, je nachdem, wie weit der Betreffende noch von zu Hause entfernt ist. Einmal
kam mir ein Auto mit einem Nummernschild aus Alaska entgegen. Ich konnte es gar nicht fassen. Noch nie hatte ich ein Nummernschild aus Alaska gesehen. Der Mann musste mehr als 4500 Meilen gefahren sein; das entspricht der Strecke London – Zambia. Er machte einen so gebrochenen Eindruck, wie ich es noch nie bei einem Menschen erlebt habe. Von Frau und Kindern war nichts zu sehen. Inzwischen bin ich der festen Überzeugung, dass er sie umgebracht und ihre Leichen in den Kofferraum geschafft hatte.
Es nieselte. In diesem Zustand völligen Stumpfsinns, dem man auf Interstate Highways hoffnungslos ausgeliefert ist, legte ich Meile um Meile zurück. Irgendwann tauchte rechts der Lake Erie auf. Wie alle Seen der Great Lakes gleicht er eher einem Binnenmeer als einem See. Er erstreckt sich über 200 Meilen von West nach Ost und ist etwa vierzig Meilen breit. Schon vor fünfundzwanzig Jahren hatte man ihn für tot erklärt. Während ich an seinem Südufer entlangfuhr und über die graue, flache Weite hinausblickte, wurde mir klar, welch eine beachtliche Leistung es ist, alles Leben in einem solch riesigen Gewässer auszulöschen. Es war kaum zu glauben, dass etwas so Kleines wie der Mensch etwas so Großes wie einen der Großen Seen zerstören konnte. Aber innerhalb nur etwa eines Jahrhunderts haben wir es vollbracht. Lasche Gesetze zum Schutz der Umwelt sowie der Triumph der Habgier über die Natur in den Zentren von Ruß und Staub, wie Cleveland, Buffalo, Toledo, Sandusky und wie sie alle heißen, haben den Lake Erie innerhalb von nur drei Generationen in ein überdimensionales Klosett verwandelt. Der größte Übeltäter von allen war Cleveland. Die Stadt war dermaßen verdreckt, dass ihr Fluss, der Cuyahoga River, eine gemächlich wabernde Schlammbrühe aus Chemikalien und halb
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