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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Staaten verbringen zu müssen. 1987 hatte Detroit 635 Fälle von Totschlag zu verzeichnen; das heißt, auf 100 000 Menschen kamen 58,2 Fälle, was dem Achtfachen des Landesdurchschnitts entspricht. Es wurden allein 365 Schießereien registriert, bei denen sowohl Opfer als auch Täter unter sechzehn Jahre alt waren. Wir reden also über eine Stadt, in der es knallhart zugeht. Noch ist es eine reiche Stadt. Was aber aus ihr werden soll, wenn die amerikanische Autoindustrie einmal zusammenbricht, ist nicht auszudenken. Dann werden die Leute wohl dazu übergehen, zu ihrem Schutz Panzerfäuste mit sich herumzuschleppen.
    Das zweite und zwingendere Argument für einen Abstecher nach Dearborn war das Henry Ford Museum, zu dem mein Vater vor Jahrzehnten einmal mit uns gefahren ist. Ich hatte es in liebevoller Erinnerung und machte mich nach dem Frühstück sofort auf den Weg. Henry Ford hat seine späten Jahre damit verbracht, Wagenladungen amerikanischer Raritäten aufzukaufen und in sein Museum neben dem Ford-Motor-Company-Rouge-Montagewerk zu schaffen. Der Parkplatz vor dem Museum war gewaltig und konnte sich durchaus mit den Fabrikparkplätzen messen, an denen ich am Tag zuvor vorbeigekommen war. Zu dieser Zeit des Jahres waren dort allerdings nur wenige Autos abgestellt. Bei den meisten handelte es sich um japanische Produkte.

    Ich betrat das Museum und nahm ohne Verwunderung zur Kenntnis, dass die Eintrittspreise gepfeffert waren: 15 Dollar für Erwachsene und 7,50 Dollar für Kinder. Amerikaner sind anscheinend gern bereit, für ihre Freizeitvergnügungen tief in die Tasche zu greifen. Ich zahlte widerwillig und ging hinein. Doch kaum hatte ich das Portal durchschritten, war ich begeistert. Schon allein die Ausmaße sind atemberaubend. Man findet sich in einem Gebäude von der Größe einer Flugzeughalle wieder. Es bedeckt eine Fläche von knapp fünf Hektar und ist mit einem unbeschreiblichen Sammelsurium angefüllt. Da waren Maschinen, ganze Eisenbahnen, Kühlschränke, der Schaukelstuhl von Abraham Lincoln, die Limousine, in der John F. Kennedy erschossen worden war (nee, nee, kein Gehirnspritzer auf dem Boden), der kunstvolle Miniaturbillardtisch von General Tom Thumb und eine Flasche mit dem letzten Lebenshauch von Thomas Edison. Letztere fand ich ganz besonders interessant. Einmal davon abgesehen, dass es eine ziemlich morbide und sentimentale Idee ist – wie konnte man wissen, welcher Atemzug der letzte sein würde? Ich stellte mir vor, wie Henry Ford an Edisons Sterbebett stand, ihm eine Flasche vor’s Gesicht hielt und sich fragte: »War’s das jetzt?«
    So hatte auch das Smithsonian einmal ausgesehen – wie eine Mischung aus einem Dachboden und einem Trödelladen –, aber lang, lang ist’s her. Leider. Hier war es, als hätte ein räuberisches Genie einen Beutezug durch das kollektive Gedächtnis der Nation unternommen und all die Dinge aus dem amerikanischen Leben, die unser liebevolles Andenken verdienen, an diesen Ort gebracht. Hier fand ich längst Verlorengeglaubtes aus meiner Jugend wieder – alte Comic-Hefte, Bubble-Gum-Karten, Dick-and-Jane-Lesebücher , den gleichen Hotpoint-Herd, den meine Mom früher hatte, und einen Brause-Siphon, wie er in der Billardhalle von Winfield stand.
    Sogar eine Milchflaschensammlung hatten sie dort. Es waren die gleichen Flaschen, die uns Mr. Morrisey, unser tauber
Milchmann, jeden Morgen vor die Haustür gestellt hatte. Mr. Morrisey war der lauteste Milchmann Amerikas. Er muss ungefähr sechzig gewesen sein und trug ein voluminöses Hörgerät. Niemals war er ohne seinen treuen Hund Skipper unterwegs. Die beiden kamen Tag für Tag in aller Frühe. Im Mittleren Westen musste Milch nämlich früh ausgeliefert werden. War die Sonne erst aufgegangen, wurde die Milch in null Komma nichts schlecht. Wir wussten also immer, wann es 5.30 Uhr war, denn dann erschien Mr. Morrisey auf der Bildfläche, pfiff sich die Seele aus dem Leib und weckte alle Hunde in der Nachbarschaft, was Skipper in eine solche Aufregung versetzte, dass er zu bellen begann. Da er taub war, nahm Mr. Morrisey seine eigene Stimme im Allgemeinen nicht wahr. Dafür hörten wir ihn auf der Veranda mit seinen Milchflaschen herumklimpern und mit Skipper reden: »NA, WAS WOLLN DENN DIE BRYSONS HEUTE! LASS MAL SEHEN ... EINEN LITER MAGERMILCH UND EIN HALBES PFUND HÜTTENKÄSE. NA, WAS SAGST DU DAZU, SKIPPER, JETZT HAB ICH DEN HÜTTEN KÄSE IM DER VERDAMMTEN KARRE GELASSEN!« Warf ich dann einen Blick aus

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