Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
ausgeprägtere soziale Fähigkeiten verfügen, aber meiner Einschätzung nach haben wir es hier mit einem ähnlichen geistigen Entwicklungsstand zu tun.
Geduldig suchte ich den Äther nach etwas Hörbarem ab, konnte aber nichts finden. Dabei war ich nicht einmal besonders anspruchsvoll. Ich wollte nichts weiter als einen Sender, der nicht unaufhörlich das muntere Geträller pubertierender Mädchen brachte und der keine Discjockeys engagierte, die öfter als im Sechs-Sekunden-Takt »H-e-y-y-y-y« riefen und zwischendurch immer wieder beteuerten, wie sehr Jesus mich liebte. Ein solcher Sender schien jedoch nicht zu existieren. Und stieß ich einmal auf etwas halbwegs Akzeptables, wurde der Sender nach zehn oder zwölf Meilen so schwach, dass der alte Beatles-Song, dem ich gerade mit einigem Vergnügen lauschte, allmählich von der Stimme eines Mannes abgelöst wurde, der das Wort Gottes verkündete und mir versicherte, der Herr sei mein Retter in der Not.
Viele amerikanische Radiostationen sind lächerlich klein und mittellos, vor allem im Hinterland. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, da ich als Teenager des Öfteren bei KCBC in Des Moines ausgeholfen habe. KCBC hatte die Übertragungsrechte für alle Baseballspiele der Iowa Oaks, konnte es sich aber nicht leisten, seinen Sportreporter, einen netten, jungen Typen namens Steve Shannon, und sein Team zu den Spielen zu schicken. Wenn die Oaks also in Denver oder Oklahoma City waren, oder wo immer sie gerade spielten, begaben Shannon und ich uns ins KCBC-Studio – eine Wellblechhütte neben einem hohen Sendeturm auf einem Acker irgendwo südöstlich von Des Moines –, wo er dann auf Sendung ging und so tat, als wäre er in Omaha. Es war schon ziemlich verrückt. Alle paar Runden rief mich jemand aus dem Stadion an und übermittelte mir am Telefon eine kurze Zusammenfassung des Spiels, die ich in ein
Protokollbuch kritzelte und an Shannon weiterreichte. Mit diesem Material machte er dann eine zweistündige Sendung.
Es war wirklich ein Erlebnis, an einem heißen Augustabend in einer fensterlosen Hütte zu sitzen, den Grillen zu lauschen und einem Mann zuzusehen, der pausenlos in ein Mikrofon sprach – was sich ungefähr so anhörte: »Es ist ziemlich kühl hier heute Abend in Omaha, und vom Missouri River weht eine leichte Brise zu uns herüber. Unter den Zuschauern befindet sich heute auch Gouverneur Warren T. Legless mit seiner bildhübschen jungen Frau Bobbie Rae. Ich kann sie beide hier unter der Pressetribüne sitzen sehen.« Shannon war ein Genie in solchen Dingen. Ich kann mich erinnern, dass wir einmal vergeblich auf den Anruf aus dem Stadion warteten, weil der Typ am anderen Ende in der Toilette eingeschlossen war oder so ähnlich. Shannon hatte natürlich keine Ahnung, was er seinen Zuhörern erzählen sollte. Also verschob er das Spiel kurzerhand und begründete die Verzögerung mit einem Platzregen, obwohl er kurz zuvor noch davon gesprochen hatte, wie herrlich und wolkenlos der Abend sei. Dann sendete er Musik, rief im Stadion an und bat jemanden, ihn über den bisherigen Verlauf des Spiels zu unterrichten. Später las ich, dass genau dasselbe auch Ronald Reagan in seiner Zeit als junger Sportreporter in Des Moines passiert war. Reagan hatte die Situation damals bewältigt, indem er den Schlagmann über eine halbe Stunde lang einen foul ball nach dem anderen schlagen ließ. Das ist zwar im Baseball mehr als unwahrscheinlich, aber Reagan gab vor, nichts Unglaubwürdiges daran finden zu können. Wenn man es sich genau überlegt, entspricht dieses Verhaltensmuster ja auch ungefähr der Art und Weise, wie er als Präsident das Land regiert hat.
Am späten Nachmittag stieß ich zufällig auf die Nachrichtensendung einer Radiostation in Crudbucket, Ohio, oder irgend so einem Nest. Die Nachrichten amerikanischer Radiosender
dauern im Allgemeinen nicht länger als dreißig Sekunden. Was ich hörte, war Folgendes: »Ein junges Ehepaar aus Crudbucket, Dwayne und Wanda Dreary, und ihre sieben Kinder, Ronnie, Lonnie, Connie, Donnie, Bonnie, Johnny und Tammy-Wynette, kamen heute ums Leben, als ein Privatflugzeug in ihr Haus stürzte und explodierte. Wie wir von Feuerwehrhauptmann Walter Embers erfuhren, kann Brandstiftung zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. An der Wall Street rutschten die Kurse heute auf den tiefsten Stand aller Zeiten. Der Dow-Jones-Index gab um 508 Punkte nach. Und nun die Wetteraussichten für Crudbucket und Umgebung: wolkenloser
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