Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Himmel und zwei Prozent Niederschlagswahrscheinlichkeit. Sie hören Radio K-R-U-D, der Sender mit viel Rock und wenig Talk.« Es folgte Hotel California von den Eagles.
Ich starrte das Radio an. Hatte ich richtig gehört? Die Aktienkurse auf dem tiefsten Stand aller Zeiten? Die amerikanische Wirtschaft vor dem Zusammenbruch? Schnell suchte ich nach einer anderen Nachrichtensendung: »... aber Senator Poontang leugnete, die Nutzung der vier Cadillacs und seine Reisen nach Hawaii stünden in irgendeinem Zusammenhang mit dem 120-Millionen-Dollar-Vertrag über den Bau des neuen Flughafens. Die Wall Street erlebte heute den größten Kurssturz der Geschichte. Innerhalb von weniger als drei Stunden gab der Dow-Jones-Index um 508 Punkte nach. Und nun zum Wetter: In Crudbucket ist heute mit starker Bewölkung und zweiundneunzig Prozent Niederschlagswahrscheinlichkeit zu rechnen. Nach einer kleinen Werbepause hören Sie wieder Musik von den Eagles.«
Die amerikanische Wirtschaft lag in Scherben, und alles, was man zu hören bekam, waren Songs von den Eagles? Ich drehte und drehte am Radio herum, fest davon überzeugt, dass irgendwo irgendein Sender der drohenden Großen Weltwirtschaftskrise mehr als nur zwei beiläufige Sätze widmen würde. Und so war es auch, dem Himmel sei Dank. Es war CBC, das kanadische
Sendenetz, das sich den ganzen Abend mit dem Börsenkrach an der Wall Street beschäftigte. Ich überlasse es Ihnen, verehrter Leser, sich die Verbitterung eines amerikanischen Staatsbürgers vorzustellen, der in seinem eigenen Land unterwegs ist und einen ausländischen Radiosender einschalten muss, um sich über Einzelheiten einer der einschneidendsten Inlandsmeldungen des Jahres zu informieren. Gerechterweise möchte ich hinzufügen, dass auch das öffentlich-rechtliche Sendenetz Amerikas – vermutlich das finanzschwächste in der entwickelten Welt – dem Börsenkrach einen langen Bericht widmete, wie ich später erfuhr. Ich schätze, er wurde aus einer Wellblechhütte auf irgendeinem Acker gesendet.
Bei Toledo fuhr ich auf die Interstate 75 und weiter in Richtung Norden nach Michigan, wo ich in Dearborn, einem Vorort von Detroit, übernachten wollte. Fast übergangslos fand ich mich in einem Dschungel aus Lagerhäusern, Eisenbahnschienen und gewaltigen Parkplätzen wieder, die zu weit abseits der Straße liegenden Automobilwerken gehörten. Die ungeheuer großen Parkplätze standen voller Autos, so dass sich mir die Frage aufdrängte, ob die Aufgabe der Fabriken einzig darin bestünde, genügend Autos zu produzieren, damit die Parkplätze stets prall gefüllt blieben. Unmengen von Strommasten überragten die Industrielandschaft. Wer hat sich nicht schon einmal gefragt, was aus all den Strommasten wird, die sich in jedem Land der Welt wie eine Armee außerirdischer Soldaten auf dem Vormarsch bis zum Horizont aufreihen? Hier ist die Antwort: Sie landen allesamt früher oder später auf einem Acker nördlich von Toledo. Dort entlädt sich ihre elektrische Energie in riesigen Transformatoren, Dioden und anderen Apparaten, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Eingeweiden überdimensionaler Fernsehgeräte aufweisen. Die Erde unter mir dröhnte, und mir war, als spürte ich, wie ein Stromstoß durch das Auto ging, bei dem sich mir für einen Moment die Nackenhaare sträubten. Die Elektrizität hinterließ in meinen Achselhöhlen ein so seltsames,
aber angenehmes Gefühl, dass ich große Lust hatte, an der nächsten Kreuzung zu wenden und noch einmal zurückzufahren, um in den Genuss einer weiteren Dosis zu kommen. Doch es war schon spät, und ich fuhr weiter. Ein paar Minuten lang meinte ich, verschmortes Fleisch zu riechen, und untersuchte vorsichtshalber meinen Kopf. Vermutlich handelte es sich hierbei jedoch lediglich um eine Überreaktion infolge der viel zu vielen Stunden, die ich einsam im Auto verbracht hatte. Vor Monroe, eine Stadt auf halbem Wege zwischen Toledo und Detroit, verkündete ein Schild am Straßenrand WILLKOMMEN IN MONROE – DIE HEIMATSTADT VON GENERAL LUSTER. Nach etwa einer Meile folgte ein zweites, noch größeres Schild mit den Worten MONROE, MICHIGAN – DIE HEIMAT DER LA-Z-BOY MÖBEL. Welch eine interessante Strecke, dachte ich. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Der Rest der Fahrt verlief ohne jegliche Aufregung.
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Ich hatte zwei gute Gründe, in Dearborn zu übernachten. Zum einen vermied ich es so, die Nacht in Detroit, der Stadt mit der höchsten Mordrate in den Vereinigten
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