Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
dem Fenster, sah ich, wie Skipper gerade an mein Fahrrad urinierte und wie in allen Häusern der Nachbarschaft die Lichter angingen. Wegen seiner unglückseligen Behinderung wollte niemand, dass man Mr. Morrisey kündigte, doch als die Firma Flynn Dairies in den sechziger Jahren ihren Lieferservice aus ökonomischen Gründen einstellte, gehörte unser Viertel zu den wenigen Teilen der Stadt, in denen kein Aufschrei der Empörung erklang.
Voller Bewunderung für Henry Ford und seinen ausgeprägten Sammeltrieb wanderte ich durch das Museum. Er mag ein Tyrann und Antisemit gewesen sein, aber ein faszinierendes Museum errichten, das konnte er. Ich hätte stundenlang darin herumstöbern können. Doch die Halle ist nur ein Bruchteil des gesamten Museums. Draußen wartet ein ganzes Dorf darauf, entdeckt zu werden – eine kleine Stadt. Sie besteht aus achtzig
Häusern amerikanischer Berühmtheiten, wobei es sich nicht etwa um Rekonstruktionen handelt, sondern um die originalen Gebäude. Ford war kreuz und quer durchs Land gereist und hatte die Wohnhäuser und Werkstätten der Leute aufgekauft, die er am meisten bewunderte – Thomas Edison, Harvey Firestone, Luther Burbank, die Gebrüder Wright (und natürlich sich selbst). All ihre Häuser ließ er in Kisten verpacken und nach Dearborn schaffen, wo er damit diese über 100 Hektar große Fantasiestadt schuf – die amerikanische Kleinstadt schlechthin, ein malerischer, zeitloser Ort, in dem jedes einzelne Haus ein Genie beherbergt (fast durchweg weiße, christliche und männliche Genies aus dem Mittleren Westen). Hier, in diesem perfekten Städtchen, mit seinen großzügigen Grünflächen und hübschen Läden und Kirchen, kauft der glückliche Bürger seine Fahrradschläuche bei Orville und Wilbur Wright, holt Milch und Eier auf der Firestone Farm (Gummi gibt es dort noch nicht – Harvey arbeitet noch daran!), leiht sich bei Noah Webster ein Buch und lässt sich von Abraham Lincoln in Rechtsangelegenheiten beraten, vorausgesetzt, Lincoln ist nicht zu sehr mit den Patentanmeldungen für Charles Steinmetz oder mit der Befreiung von George Washington Carver beschäftigt, der übrigens in einer winzigen Hütte gegenüber wohnt.
Es war faszinierend. Gebäude wie Edisons Werkstatt und die Unterkünfte seiner Arbeiter sind so gut erhalten und so anschaulich aufgemacht, dass man sich wirklich vorstellen kann, wie die Menschen dort gelebt und gearbeitet haben. Natürlich ist es auch sehr praktisch, all diese Häuser an einem Ort versammelt vorzufinden. Wer würde schon nach Columbiana, Ohio, fahren, um sich das Geburtshaus von Harvey Firestone anzusehen, oder nach Dayton, wo die Gebrüder Wright gelebt haben? Ich nicht. Vor allem aber wird einem durch diese Anhäufung erst bewusst, wie unglaublich schöpferisch Amerika seinerzeit war, welch einen Erfindungsreichtum auf praktischem und kommerziellem Gebiet es besaß und wie viele Annehmlichkeiten
und Freuden des modernen Lebens ihre Wurzeln in den Kleinstädten des amerikanischen Mittleren Westens haben. Diese Erkenntnis erfüllte mich mit Stolz.
Ich fuhr noch ein Stück nach Norden und dann quer durch Michigan in Richtung Westen, und noch immer klang in mir die Erinnerung an den vergnüglichen Museumsbesuch nach. Fast ohne es zu merken, hatte ich 100 Meilen zurückgelegt, hatte Lansing und Grand Rapids hinter mir gelassen und fuhr nun in den Manistee National Forest. Der Staat Michigan ist wie ein Fausthandschuh geformt und oft ungefähr ebenso aufregend. Schnurgerade und eben führte der Highway durch dichte, öde Kiefernwälder, durch eine scheinbar endlose Eintönigkeit. Gelegentlich schimmerte ein kleiner See oder eine Hütte durch die Bäume, aber meistens sah ich nichts als dichten Wald. Die wenigen Ortschaften waren überwiegend schmutzig und verwahrlost vereinzelte Wohnhäuser und hässliche Fertigbauten, in denen hässliche Fertighütten hergestellt und vertrieben wurden, so dass die Leute ihr eigenes, kleines Stück Hässlichkeit kaufen und mit in die Wälder nehmen konnten.
Hinter Baldwin wurde die Straße breiter und leerer. Gewerbebetriebe sah ich kaum noch. In Manistee führte der Highway dann zum Lake Michigan hinunter und folgte von nun an immer wieder seinem Ufer, durch hübsche, kleine Gemeinden aus zu dieser Jahreszeit zumeist verlassenen Sommerhäusern – wie Pierport, Arcadia, Elberta und Frankfort. In Empire stieg ich aus, um einen Blick auf den See zu werfen. Es war überraschend kalt. Ein stürmischer
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