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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Wind wehte aus Wisconsin herüber, das siebzig Meilen entfernt an der gegenüberliegenden Seite des stahlgrauen Wassers lag. Auf dem See tanzten Schaumkronen und kleine Wellen. Ich wollte einen Spaziergang machen, doch schon nach fünf Minuten hatte der Wind mich zurück zum Auto geweht.
    Ich fuhr weiter nach Traverse City. Dort war es deutlich milder, vermutlich weil die Stadt geschützter lag. Traverse City
wirkte auf den ersten Blick wie ein schönes, altes Städtchen, in dem seit ungefähr 1948 alles beim Alten geblieben war. Dort gab es noch immer ein Woolworth-Warenhaus, ein J. C. Penney, ein altmodisches Kino namens The Stade und das Sidney, ein herrlich altes Restaurant mit dunklen Nischen und einer langen Erfrischungsbar. Solche Restaurants sieht man heute so gut wie gar nicht mehr. Ich trank einen Kaffee und fühlte mich pudelwohl. Anschließend folgte ich einer Straße die eine Seite der Grand Traverse Bay hinauf und die andere wieder hinunter, so dass ich stets die Strecke überblicken konnte, die ich vor oder hinter mir hatte. Hin und wieder verlief die Straße in einem Bogen durchs Inland, führte vorbei an Farmen und Kirschplantagen, um dann wieder an den See zurückzukehren. Im Laufe des Nachmittags legte sich der Wind, und die Sonne kam durch, erst zögernd wie ein schüchterner Gast, dann schien sie anzuhalten und verteilte silbrige und blaue Flecken über den See. Weit draußen über dem Wasser, vielleicht zwanzig Meilen entfernt, entluden sich dunkle Regenwolken. Der Regen fiel als gräulicher Vorhang, über dem sich hoch oben am Himmel ein blasser Regenbogen wölbte. Es war unsagbar schön. Wie gebannt fuhr ich durch das Naturschauspiel.

    Am frühen Abend erreichte ich Mackinaw City. Die Stadt liegt an der Spitze des Fausthandschuhs, an der Stelle, an der das südliche und das nördliche Michigan fast aneinander stoßen und die Straits of Mackinac bilden. Über die Meerenge, die den Lake Michigan vom Lake Huron trennt, spannt sich eine fünf Meilen lange Hängebrücke. Mackinaw City – über die richtige Schreibweise dieses Namens ist man sich bis heute nicht einig – war eine unansehnliche, kleine Stadt, voller Souvenirläden, Motels, Eisdielen, Pizzerien, Parkplätze und kleiner Reedereien, die den Fährbetrieb nach Mackinac Island unterhielten. Fast jedes Unternehmen einschließlich der Motels hatte den Betrieb für dieses Jahr eingestellt. Die Winterpause hatte begonnen. Das
Holiday Motel am Ufer des Lake Huron schien noch geöffnet zu haben, also trat ich ein und läutete an der Rezeption. Ein junger Mann erschien und war offensichtlich überrascht, noch einen Gast vor sich zu haben. »Wir wollten gerade dichtmachen«, sagte er. »Es ist keiner mehr da. Sie sind alle essen gegangen und feiern. Aber Zimmer haben wir natürlich. Wollen Sie eins?«
    »Was soll es denn kosten?«, fragte ich.
    Er überlegte kurz und sagte: »Zwanzig Dollar?«
    »Hört sich gut an«, antwortete ich und füllte das Anmeldeformular aus. Das Zimmer war klein, aber fein und hatte glücklicherweise eine Heizung. Ich verließ es gleich wieder und bummelte auf der Suche nach einem Restaurant durch die Straßen. Obwohl es erst kurz nach sieben war, war es schon dunkel und so kalt, als wäre es Dezember und nicht Oktober. Ich konnte meinen Atem sehen. Es war merkwürdig, in einer Stadt zu sein, die so verlassen wirkte. Selbst McDonald’s hatte geschlossen. Im Fenster hing ein Schild, auf dem man mir einen angenehmen Winter wünschte. Ich ging hinunter zum Ableger der Shepler’s Ferry, um mich über die Abfahrtszeiten der Fähre nach Mackinac Island zu informieren. Die nächste ging morgens um elf. Ich stellte mich neben den Pier, hielt meine Nase in den Wind und blickte lange auf den Lake Huron hinaus. Ein paar Meilen vom Ufer entfernt lag Mackinac Island, so hell erleuchtet wie ein Luxusdampfer. Auf der größeren Nachbarinsel Bois Blanc war kein Licht zu sehen. Weiter links spannte sich die Mackinac Bridge mit Festtagsbeleuchtung über die Meerenge. Überall auf dem Wasser funkelten ihre Lichter. Erstaunlich, dass eine so nichtssagende kleine Stadt eine so herrliche Aussicht zu bieten hat.
    Ich aß in einem fast leeren Restaurant und trank anschließend zwei, drei Bier in einer ebenso leeren Bar. Sowohl im Restaurant als auch in der Bar hatte man die Heizung angedreht. Es war warm und gemütlich. Draußen schlug der Wind mit viel Getöse gegen die Tafelglasscheiben der Fenster. Ich mochte die
ruhige Bar. Die meisten

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