Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Bars in Amerika sind düster und stecken voller missmutiger Typen. Jeder trinkt allein und starrt vor sich hin. Die angenehme Kaffeehausatmosphäre europäischer Bars sucht man hier vergebens. Amerikanische Bars sind im Großen und Ganzen nichts weiter als finstere Orte, in denen man sich voll laufen lässt. Mein Fall sind sie jedenfalls nicht, aber diese Bar war o.k. Sie war gemütlich und ruhig und gut beleuchtet, so dass ich lesen konnte. Es dauerte nicht lange, und ich hatte einen sitzen. Aber auch das war o.k.
Als ich am nächsten Morgen früh erwachte und mit der Hand über das beschlagene Fenster wischte, musste ich feststellen, dass es kein guter Tag war, der mich erwartete. Es schneite. Wässrige Schneeflocken tanzten wie Schwärme weißer Insekten im Wind. Ich schaltete den Fernseher ein und kroch zurück ins warme Bett. Ich empfing den regionalen Sender von PBS, das Public Broadcasting System – ein Vertreter des so genannten Bildungsfernsehens. Angeblich zeigt er anspruchsvolles Fernsehen. Da PBS jedoch grundsätzlich knapp bei Kasse ist, besteht das Programm überwiegend aus Melodramen der BBC mit Susan Hampshire in den Hauptrollen und aus Eigenproduktionen, die mit einem Kostenaufwand von zirka 12 Dollar entstanden sind – TV-Kochkurse, religiöse Diskussionsrunden, Ringkämpfe der städtischen Highschools. Kurzum, ein alles andere als sehenswertes Programm. Und mit PBS ging es weiterhin bergab. Was ich gerade zu sehen bekam, war ein Spendenaufruf des Senders in eigener Sache. Auf dem Bildschirm waren zwei leger gekleidete Männer mittleren Alters zu sehen, die neben einem Tisch mit zwei Telefonen saßen und ihre Zuschauer um Geld baten. Sie versuchten, sich heiter und vergnügt zu geben, doch aus ihren Augen sprach Verzweiflung.
»Wäre es nicht ein Jammer, wenn eure Kinder auf die Sesamstraße verzichten müssten?«, sagte einer von ihnen in Richtung Kamera. »Gebt euch einen Ruck, Moms und Dads, ruft uns an
und unterstützt uns mit einer Spende.« Aber niemand rief an. Also sprachen die beiden miteinander über all die wundervollen Sendungen auf PBS. Sie mussten schon eine ganze Weile so geredet haben. Schließlich klingelte eines der Telefone. »Ich hatte gerade meinen ersten Anrufer«, sagte der eine der Männer, als er den Hörer wieder auflegte. »Es war Melanie Bitowski aus Traverse City. Melanie feiert heute ihren vierten Geburtstag. Also Happy Birthday, Sweetheart. Aber wenn du das nächste Mal anrufst, dann hol doch deine Mom oder deinen Dad ans Telefon, damit sie uns ein bisschen Geld spenden. Das gilt natürlich für euch alle, Kinder.« Diese Männer kämpften um ihren Job, das war klar, und ihr Flehen stieß in ganz Michigan auf taube Ohren.
Ich ging unter die Dusche, zog mich an, packte meine Tasche und ließ den Fernseher dabei nicht aus den Augen. Gespannt verfolgte ich, ob sich ein Spender melden würde. Aber die Telefone blieben stumm. Als ich den Fernseher ausschaltete, sagte gerade einer der beiden Männer mit einer Spur von Gereiztheit in der Stimme: »Na los, Leute, ich kann nicht glauben, dass uns da draußen niemand zuschaut. Es muss doch schon jemand wach sein. Es muss doch da draußen irgendjemanden geben, der die Qualität des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu schätzen weiß und es sich und seinen Kindern bewahren will.« Er irrte sich.
Ich gönnte mir ein üppiges Frühstück in dem Restaurant, in dem ich schon am Abend zuvor gegessen hatte, und schlenderte anschließend zum Hafen, um auf die Fähre zu warten. Es war windstill. Der letzte Schnee, der noch vom Himmel fiel, schmolz, sobald er auf den Boden traf. Dann hörte es ganz auf zu schneien, und überall tropfte es – von allen Dächern, von allen Bäumen und von mir. Es war erst zehn Uhr, und am Kai rührte sich nichts. Mit Schneematsch bedeckt stand der Chevette einsam und verlassen auf dem großen Parkplatz. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, machte ich einen Rundgang durch ein Wohnviertel, vorbei an einem einstöckigen Bungalow und einer
baumlosen Rasenfläche nach der anderen. Als ich etwa vierzig Minuten später wieder am Kai stand, hatte der Chevette Gesellschaft bekommen, und mindestens zwanzig bis dreißig Leute stiegen soeben an Bord der Fähre.
Wir drängten uns in einen kleinen Raum voller Sitzbänke. Mit dem Geräusch eines Staubsaugers sprang der Schiffsmotor an, die Fähre wendete, und schon glitten wir über die grüne Trostlosigkeit des Lake Huron. Der See war unruhig, wie Wasser, das
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