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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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auf kleiner Flamme kocht, aber während der Fahrt merkten wir nichts davon. Die Menschen um mich herum waren merkwürdig aufgeregt. Ständig sprangen sie auf und machten Fotos oder deuteten auf irgendetwas in der Ferne. Ich hatte den Eindruck, viele von ihnen wären zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Fähre. Vielleicht hatten sie auch noch nie eine Insel gesehen. Kein Wunder, dass sie aufgeregt waren. Auch ich war aufgeregt, aber das hatte einen anderen Grund.
    Es war nicht meine erste Fahrt nach Mackinac Island. Als ich ungefähr vier Jahre alt war, ist mein Dad mit uns dorthin gefahren – ein Erlebnis, das vielleicht zur ältesten meiner deutlichen Kindheitserinnerungen geworden ist und zu einer meiner schönsten. Ein großes, weißes Hotel mit einer langen Veranda und reihenweise Blumen, die in der Julisonne leuchteten, hat sich ebenso in mein Gedächtnis eingegraben wie ein großes Fort auf einem Berg. Ich kann mich auch daran erinnern, dass es auf der Insel keine Autos gab, nur Pferdekutschen und viele, viele Pferdeäpfel, und dass ich einmal in einen solchen warmen, matschigen Pferdeapfel getreten bin, woraufhin meine Mutter mir den Schuh mit einem Zweig und einem Papiertaschentuch sauber machte und sich köstlich amüsierte. Kaum hatte sie mir den Schuh wieder angezogen, trat ich mit dem anderen Fuß in einen anderen Misthaufen – aber sie wurde nicht böse. Meine Mutter wurde niemals böse. Sie ist nicht gerade vor Freude in die Luft gesprungen, aber sie schrie nicht, und sie verteilte auch keine Ohrfeigen. Sie sah nicht einmal aus, als müsste sie einen
hysterischen Anfall unterdrücken, wie es mir immer ergeht, wenn meine Kinder in etwas Warmes und Matschiges treten, was sie mit Vorliebe tun. Sie sah nur für einen Moment irgendwie müde aus, lächelte mich dann an und sagte, dass ich froh sein könne, dass sie mich so liebe. Wie wahr. Sie ist eine Heilige, meine Mutter, vor allem wenn es um Pferdescheiße geht.
    Mackinac Island ist eine ausgesprochen kleine Insel – um die fünf Meilen lang und ein paar Meilen breit. Hat man sie erst einmal betreten, erscheint sie jedoch viel größer, wie die meisten Inseln. Seit 1901 sind Autos und motorisierte Fahrzeuge jeglicher Art auf Mackinac Island verboten. Verlässt der Ankömmling die Fähre, erwarten ihn an der Main Street eine Reihe von Pferdekutschen – eine elegante Kutsche für die Gäste des Grandhotels, offene Wagen für die Teilnehmer einer der teuren Inselrundfahrten und eine Art Schlitten für den Transport von Gepäck und Frachtgut. Mackinac Village war genauso vollkommen, wie ich es in Erinnerung hatte. Wie auf einer Perlenschnur aufgereiht säumten weiße viktorianische Bauten die ansteigende Main Street, und malerische Häuschen verteilten sich über den steilen Hang des Berges, auf dem das alte Fort Mackinac thront. Es wurde 1780 zur Verteidigung der Meerenge errichtet und hält auch heute noch seine schützende Hand über die Stadt.
    Gemächlich spazierte ich durch die Straßen und machte einen großen Bogen um jeden kleinen Haufen Pferdemist. In dieser Stadt ohne Autos war die Ruhe fast perfekt. Die ganze Insel schien sich darauf vorzubereiten, in Kürze in ein sechsmonatiges Koma zu sinken. Fast alle Geschäfte und Restaurants entlang der Main Street waren geschlossen. Die Saison war so gut wie zu Ende. Im Sommer, wenn Tausende von Tagesausflüglern über die Insel herfallen, muss es dort schrecklich sein. In einem Prospekt fand ich allein sechzig Souvenirläden aufgelistet und mehr als dreißig Restaurants, Eisdielen, Pizzerien und Gebäckstände. Doch zu dieser Zeit des Jahres war die Insel idyllisch und friedlich und unglaublich hübsch.

    Eine Zeit lang war Mackinac Island die größte Handelsniederlassung der Neuen Welt gewesen. Auch die Pelzhandelsgesellschaft von John Jacob Astor hatte hier ihren Sitz. Die eigentliche Blütezeit von Mackinac Island begann jedoch erst, als im späten neunzehnten Jahrhunderts die betuchten Bürger von Chicago und Detroit auf die Insel strömten, um der Hitze der Städte zu entfliehen und die pollenfreie Luft zu genießen. Das Grandhotel, das größte und älteste Ferienhotel der Vereinigten Staaten, öffnete seine Tore, und die reichsten Industriellen des Landes kamen und bauten stattliche Sommerhäuser auf den Klippen hoch über dem See und Mackinac Village. Dorthin machte ich mich nun auf den Weg. Die Aussicht über den Lake Huron war fantastisch, aber die Häuser waren schlicht und einfach

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