Street Art Love (German Edition)
Natürlich stellt ihn niemand zur Rede.
Wir geben unsere Jacken und Taschen an der Garderobe ab, dann gehen wir in den Ausstellungsraum. Es ist sehr voll, daher beschließt Frau Kruger, dass wir vor den Bildern nur sehr kurze Referate halten.
Charly ist vor mir dran. Wir stellen uns vor eines der typischen Bilder der Künstlergruppe
Cobra
. Ein wildes Durcheinander von grellbunten Farblinien und verschmierten Bildbereichen. Charly holt einen zerknautschten Zettel aus seiner Tasche und liest ab, wann sich die Gruppe gegründet hat und was ihre Ziele waren. Dinge, die jeder in drei Sekunden auf seinem iPhone hätte googeln können. Und irgendwie bin ich auch empört, dass so ein Bild in einem Museum hängt. Doch dann beschreibt Charly das Bild und die Maltechnik, und das macht er sehr gut.
»Sie wollten das Gefühl einfangen, den Moment, die Energie des Augenblicks.« Er sagt das mit einer Leidenschaft, die mir gefällt. Auf einmal verstehe ich, warum die Künstler so gemalt haben und was sie damit sagen wollten.
»Es geht um Befreiung!«, sagt Charly, und alle Mädchen außer mir nicken, aber das tun sie sowieso die ganze Zeit. Steffen steht dicht hinter mir, ich spüre seinen Atem in meinem Nacken.
»Blöder Angeber!«, höre ich ihn hinter mir flüstern, und obwohl ich vor ein paar Tagen noch das Gleiche gedacht habe, bin ich in diesem Moment absolut nicht Steffens Meinung.
Wenn man ein Bild von einem Foto kennt, ist das eine Sache, aber es dann in Wirklichkeit zu sehen, ist etwas ganz anderes. Das Selbstporträt von Max Beckmann ist viel größer, als ich es mir vorgestellt habe. Ich brauche keinen Zettel und erzähle auswendig, was ich über das Bild weiß, von der Technik und etwas über Max Beckmanns Leben und warum beides zusammengehört. Danach ist Zeit, um Fragen zu stellen.
»Wie findest du denn Beckmanns Bilder?«, fragt Steffen.
Ich bin etwas überrumpelt von der Frage. Darum geht es doch in dem Referat gar nicht.
»Mir gefallen sie gut. Sie sind sehr … intensiv!«, sage ich ungeschickt. Ich weiß selber nicht so genau, wie ich das meine.
»Nicht zu dunkel? Zu viel Schwarz?«, meldet sich Charly.
Jetzt werde ich rot, was mich richtig ärgert. Ja, natürlich erinnere ich mich daran, dass ich ihn Schwarz genannt habe. Und er sich offenbar auch.
»Nein. Das Schwarz bringt die Farben erst richtig zum Leuchten!«, sage ich schnell, und mir wird klar, dass dies fast eine indirekte Liebeserklärung ist. Zum Glück weiß das kein anderer.
Charly grinst. »Ach so. Verstehe.«
Nach neun Referaten sind wir alle erschöpft, und Frau Kruger schlägt vor, dass wir einen Kaffee im Museumscafé trinken. Wir sitzen an Dreiertischen und unterhalten uns. Steffen sitzt am Nebentisch und schaut immer zu mir herüber. Bin ich verrückt, bilde ich mir das nur ein? Irgendwann wird es mir zu viel, und ich gehe zu dem Büchertisch neben dem Café. Ich blättere erst durch einen Katalog von Max Beckmann und nehme mir dann einen Bildband mit expressionistischen Bildern, aber ich realisiere kaum, was ich mir ansehe. Steffen ist mir gefolgt und steht neben mir und blättert in einem Picasso-Katalog. Das macht mich wirklich nervös. Was ist, wenn er jetzt etwas fragt oder sich mit mir verabreden will?
Er schiebt sich etwas näher an mich, greift nach einem Katalog mit naiver Malerei und schlägt ihn auf. Es ist eine Kunstrichtung, mit der ich nicht viel anfangen kann. Die Abbildungen sehen aus wie die Wimmelbilder in Max’ alten Bilderbüchern.
»Die finde ich richtig gut«, sagt Steffen. Ich sage nichts.
»Das ist Laienmalerei!«, höre ich auf einmal Charlys Stimme. Er steht neben Steffen.
»Ich dachte, das findest du gut. Ohne Ausbildung und so«, sagt Steffen selbstbewusst und schirmt mich gegen Charly ab.
»Nee, das ist mir zu harmlos«, sagt Charly, und ich muss mir ein Grinsen verkneifen.
Steffen dreht sich zu mir. »Sophie, wie findest du die Bilder?«
Es klingt, als ob eine andere Frage in dieser Frage versteckt ist.
»Äh …, ist nicht so mein Geschmack …«
Charly grinst frech. Steffen schlägt den Katalog zu und geht steif zurück ins Café. Ich weiß, ich habe ihn verletzt, dabei habe ich nur meine Meinung gesagt. Und mich ärgert, dass Charly so dumm grinst. Trotzdem will ich nicht hinter Steffen hergehen.
»Stimmt das?«, fragt Charly leise. »Das ist nicht dein Geschmack?«
Seine Stimme klingt ganz anders, weich und sehr sanft.
»Nein, ich finde die Bilder zu kindlich.
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