Streiflichter aus Amerika
jede gewundene Nebenstraße und jeder runde Berghang plötzlich in allen kräftigen Farbschattierungen leuchtet, die die Natur zu vergeben hat – flammendes Scharlachrot, schimmerndes Gold, bebendes Zinnoberrot, feuriges Orange.
Verzeihen Sie bitte, wenn ich mich ein wenig exaltiere, aber man kann solch ein grandioses Spektakel nicht beschreiben, ohne überzusprudeln. Selbst der große Naturforscher Donald Culross Peattie, ein Mann, dessen Stil so trocken ist, daß die Seiten zu zerbröseln drohen, verlor total den Kopf, als er versuchte, das Wunder eines Herbstes in Neuengland in Worte zu fassen.
In seinem Klassiker Naturgeschichte der Bäume im östlichen und mittleren Nordamerika läßt er sich vierhundertvierunddreißig Seiten lang in einer Sprache aus, die man wohlwollend fachlich korrekt nennen könnte. (Kostprobe gefällig? Bitte schön: »Eichen sind gewöhnlich massige, schwerholzige Bäume mit schuppiger oder gefurchter Rinde und mehr oder weniger fünfarmigen Ästen und folglich fünffingrigen Blättern...«) Aber wenn der gute Mann seine Aufmerksamkeit dem Zuckerahorn in Neuengland widmet und dessen leuchtendem herbstlichen Gepränge, klingt er, als hätte ihm jemand was in den Kaffee getan. In atemberaubendem Metaphernwirrwarr beschreibt er die Farben des Ahorns als »Schrei einer großen Armee... als Flammenzungen ... als eine mächtige Marschmelodie, die auf den Wellenkämmen eines vielstimmigen, wogenden Meeres reitet und mit ihrem schrillen Gesang all den wohlberechneten Dissonanzen des Orchesters eine Bedeutung verleiht«.
»Ja, Donald«, hört man seine Frau geradezu sagen, »jetzt nimm deine Tabletten, Liebes.«
Zwei fiebrige Absätze lang fährt er so fort und doziert dann urplötzlich wieder über nach unten gebogene Blattachseln, geschuppte Knospen und hängende Zweige. Ach, ich verstehe ihn gut. Als ich in der unirdisch klaren Luft den Gipfel des Killington erreichte und die Landschaft in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont von herbstlichem Glanz übergossen war, mußte ich wahrhaftig an mich halten, sonst hätte ich die Arme ausgebreitet und ein Medley von JohnDenver-Melodien angestimmt. (Deshalb rate ich auch dringend, mit einem erfahrenen Begleiter zu wandern und einen gutausgestatteten Erste-Hilfe-Kasten mitzunehmen.)
Gelegentlich liest man, daß ein Botaniker mit dem wissenschaftlichen Pendant zu einer Teppichbodenfarbkarte loszieht und mit ernster Entdeckermiene verkündet, daß die Ahornbäume in Michigan oder die Eichen in den Ozarks noch intensivere Töne erreichen. Damit übersieht er aber alles, was die herbstliche Prachtentfaltung in Neuengland so einzigartig macht.
Zum einen bietet sich hier eine Szenerie, mit der sich keine andere in Nordamerika messen kann. Die sonnenbeschienenen weißen Kirchen, die überdachten Brücken, schmucken Farmen und idyllischen Dörflein passen aufs malerischste zu den vollen erdigen Farben der Natur, und es gibt eine Artenvielfalt an Bäumen wie in sonst kaum einer Region. Eichen, Buchen, Espen, Sumachgewächse, vier Ahornsorten und schier unzählige andere bieten sinnenbetörende Kontraste. Zum anderen ist das Klima im Herbst kurze Zeit in einem perfekten Gleichgewicht. Die klaren, eisigen Nächte und warmen, sonnigen Tage bringen alle Laubbäume dazu, gleichzeitig in die glühendsten Farben auszubrechen. Deshalb sei hier unmißverständlich gesagt: Jedes Jahr im Oktober ist ein paar glorreiche Tage lang Neuengland der schönste Ort auf Erden!
Und niemand weiß, warum.
Im Herbst, wie Sie sich aus dem Biologieunterricht in der Schule erinnern werden (falls nicht, aus Natursendungen im Fernsehen), bereiten sich die Bäume, die ihr Laub verlieren, auf ihren langen Winterschlaf vor, indem sie aufhören, Chlorophyll zu produzieren, die chemische Substanz, die die Blätter grün färbt. Für die anderen Pigmente, die Karotinoide heißen und die ganze Zeit in den Blättern waren, ist das Fehlen des Chlorophylls die Gelegenheit, auch mal ein bißchen zu protzen. Sie sind für das Gelb und Gold der Birken, Hikkorys, Buchen, einiger Eichen und vieler anderer Pflanzen verantwortlich. Doch jetzt wird's interessant. Damit die güldenen Farben voll zur Entfaltung kommen, müssen die Bäume die Blätter weiter ernähren, obwohl diese eigentlich nichts Nützliches tun und nur noch da hängen und hübsch aussehen. Ja, genau in einer Zeit, in der ein Baum alle seine Energien für die Aufgaben des folgenden Frühjahrs speichern sollte, verwendet er große
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