Streng vertraulich
im Spiegel angucken?«
»Wer?«
»Die Leute, die so einen… Scheiß erzählen. Rassistisch motiviert. Ich bitte dich. ›Curtis ist nie in einer Gang gewesen.‹« Sie blickte nach unten und sprach mit dem Bild von Curtis’ Mutter. »Er war ganz bestimmt nicht bis drei Uhr morgens mit den Pfadfindern unterwegs, Madam.«
Ich klopfte ihr auf die Schulter. »Reg dich ab!«
»So ein Schwachsinn!« rief sie.
»Sie ist eine Mutter«, wandte ich ein. »Sie würde alles behaupten, um ihr Kind zu schützen. Kann man ihr nicht übelnehmen.«
»Ach nein?« fragte sie. »Und warum muß sie dann von Rasse reden, wenn sie einfach nur ihr Kind beschützen will? Was passiert als nächstes? Kommt Reverend Al Sharpton her und hält eine Gedenkwache für Curtis’ Fuß ab ? Macht den bösen weißen Mann auch für Jennas Tod verantwortlich?«
Sie konnte nicht mehr aufhören. Die reaktionäre Wut der Weißen. Die habe ich in letzter Zeit oft erlebt. Ganz schön oft. Ich selber habe manchmal ähnliches gesagt. Am meisten erlebt man sie bei armen Menschen und Arbeitern. Man erlebt sie, wenn hirnverbrannte Soziologen Vorfälle wie den Anschlag im Central Park das Ergebnis »unkontrollierbarer Impulse« nennen und die Taten einer Gruppe von Bestien mit dem Argument verteidigen, sie hätten bloß auf jahrelange Unterdrückung der Weißen reagiert. Und wenn man darauf hinweist, daß diese netten, wohlerzogenen Bestien, die zufällig schwarz sind, ihren Puls sehr wohl unter Kontrolle gehalten hätten, wenn die Joggerin von einer Gruppe Bodyguards bewacht worden wäre, dann bekommt man den Stempel »Rassist« aufgedrückt. Man erlebt diese Wut, wenn die Medien die Hautfarbe zum Thema machen. Man erlebt sie, wenn sich mehrere, eigentlich gutmeinende Weiße zur Diskussion treffen und schließlich sagen: »Ich bin kein Rassist, aber …« Man erlebt sie, wenn Richter, die das Ende der Rassentrennung in öffentlichen Schulen per Dekret herbeiführen wollen, indem sie die Schüler mit Bussen in andere Stadtgebiete karren lassen, ihre eigenen Kinder auf Privatschulen schicken oder wenn, wie kürzlich vorgefallen, ein Richter am Oberlandesgericht sagt, ihm seien noch nie Beweise vorgelegt worden, daß Straßengangs gefährlicher seien als Gewerkschaften.
Am deutlichsten erlebt man diese Wut, wenn Politiker, die in Hyannis Port, Beacon Hill oder Wellesley leben, Entscheidungen fällen, die in Dorchester, Roxbury oder Jamaica Plain lebende Menschen betreffen, sich dann zurückziehen und behaupten, es herrsche kein Krieg.
Doch es herrscht Krieg. Er herrscht auf Spielplätzen, nicht in Fitneßclubs. Er wird auf Beton ausgefochten, nicht auf Wiesen. Er wird mit Crackpfeifen und Flaschen gekämpft, in jüngster Zeit auch mit Schnellfeuerwaffen. Doch solange er nicht durch die schweren Eichentüren dringt, hinter denen man mit Privatschulausbildung, Verschleppungstaktik und Martinis kämpft, wird er nie wirklich existieren.
South Central L.A. könnte ein Jahrzehnt lang brennen, die meisten würden den Rauch erst riechen, wenn die Flammen den Rodeo Drive erreichten.
Ich wollte das klären. Jetzt. Wollte das alles hier im Auto mit Angie durchkauen, bis unsere Standpunkte in diesem Krieg klar definiert waren, bis wir genau wußten, welche Einstellung wir gegenüber jeder Frage hatten, bis wir in unsere Herzen sehen und mit dem, was wir erblickten, zufrieden sein konnten. Aber so fühle ich mich ziemlich oft, und am Ende bewege ich mich nur im Kreis, alles bleibt ungelöst.
Deshalb fragte ich: »Und was willst du dagegen tun, hm?« und parkte am Straßenrand vor ihrem Haus.
Sie blickte auf die Titelseite der Zeitung, auf Jennas Leiche. Dann schlug sie vor: »Ich kann Phil sagen, daß wir Überstunden machen müssen.«
»Mir geht’s gut«, entgegnete ich.
»Geht’s dir nicht.«
Ich lachte halbherzig. »Nein, geht’s mir nicht. Aber du kannst nicht mit in meine Träume kommen und mich dort beschützen. Ansonsten komme ich schon damit zurecht.«
Sie stand jetzt neben dem Auto, beugte sich noch einmal vor und küßte mich auf die Wange. »Mach’s gut, Scooter.«
Ich sah ihr nach, während sie die Stufen zum Hauseingang hochstieg, mit den Schlüsseln herumklimperte und die Tür aufschloß. Bevor sie eintrat, ging im Wohnzimmer ein Licht an, und der Vorhang tat sich einen Spaltbreit auf. Ich winkte Phil zu, worauf der Vorhang schnell wieder zufiel.
Angie schloß die Tür, machte das Licht im Flur aus, und ich fuhr davon.
Im Kirchturm brannte Licht. Ich hielt
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