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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Ähnliches. Sie piekste mit dem Zeigefinger so heftig auf den Eject-Knopf meines Autoradios, daß Exile on Main Street wie ein Geschoß an mir vorbeiflog. Die Kassette prallte an der Rückenlehne ab und fiel auf den Boden. Und das auch noch mitten in »Shine a Light«. Ein Sakrileg.
    »Heb sie auf!«
    Sie tat es und warf sie neben mir auf den Sitz. Dann fragte sie: »Hast du keine neue Musik?« Unter neue Musik versteht Angie die ganzen Bands, die sie sich reinzieht. Sie heißen Depeche Mode oder The Smiths und hören sich in meinen Ohren alle gleich an: wie ein Haufen weißer britischer Trottel auf Thorazin. Als die Stones anfingen, waren sie auch ein Haufen weißer britischer Trottel, aber sie hörten sich nie an, als wären sie auf Thorazin. Selbst wenn sie es waren.
    Angie durchforstete meine Kassettensammlung. Ich schlug vor: »Versuch mal Lou Reed. Ist schon eher dein Stil.«
Nachdem sie New York eingelegt und ein paar Minuten gelauscht hatte, bemerkte sie: »Das ist in Ordnung. Hast du die aus Versehen gekauft?«
Kurz vor der Stadtgrenze hielt ich vor einem Store 24, wo sich Angie Zigaretten kaufte. Sie erschien mit zwei Spätausgaben der News, von denen sie mir eine reichte.
Da wurde mir dann klar, daß ich der zweite Kenzie war, dem durch die Zeitung eine gewisse Unsterblichkeit zuteil werden sollte. Da würde ich nun immer sein, am 30. Juni schwarzweiß in Zeit und Raum für alle die eingefroren, die die Ausgabe auf Mikrofiche betrachten wollten. Und dieser Augenblick, dieser intime Augenblick, als ich, Jennas Leiche hinter mir, neben Blaumütze hockte, mir die Ohren sausten und mein Gehirn versuchte, sich wieder in meinem Schädel zu verankern, dieser Moment gehörte nicht mehr mir allein. Er war Hunderttausenden von Menschen, die mich noch nie gesehen hatten, zum Frühstück ausgespuckt worden. Der für mich wahrscheinlich intimste Augenblick meines Lebens sollte von jedermann wiedergekäut und kritisiert werden, vom Kneipengänger in Southie bis zum Börsianer, der in irgendeinem Wolkenkratzer im Zentrum gerade Fahrstuhl fuhr. Die Vorstellung vom globalen Dorf in die Praxis umgesetzt, und sie gefiel mir ganz und gar nicht.
Immerhin erfuhr ich, wie Blaumütze hieß. Curtis Moore. Er war in kritischem Zustand im Boston City Hospital eingeliefert worden, die Ärzte arbeiteten angeblich krampfhaft daran, seinen Fuß zu retten. Er war achtzehn Jahre alt und ein stadtbekanntes Mitglied der Raven Saints, einer Gang, die sich in den Sozialsiedlungen von Raven Boulevard in Roxbury gebildet hatte und als Erkennungszeichen Baseballkappen und Fanartikel der New Orleans Saints favorisierte. Auf Seite drei war seine Mutter abgebildet, die ein gerahmtes Foto von ihm in der Hand hielt, auf dem er zehn Jahre alt war. Sie wurde wie folgt zitiert: »Curtis ist nie in einer Gang gewesen. Hat nie was Böses getan.« Sie verlangte eine Untersuchung und behauptete, das Ganze sei »rassistisch motiviert«. Sie besaß sogar die Frechheit, die Angelegenheit mit dem Charles-Stuart-Fall zu vergleichen: Damals hatte der Staatsanwalt und so gut wie jeder andere die Geschichte von Charles Stuart geglaubt, daß ein Schwarzer seine Frau umgebracht habe. Ein Schwarzer war verhaftet worden, und wahrscheinlich hätte man ihn auch verurteilt, wenn die Höhe der Versicherungspolice, die Stuart für seine Frau abgeschlossen hatte, nicht dafür gesorgt hätte, daß einige Menschen die Stirn runzelten. Die Sache mit Curtis Moore hatte ebensoviel mit dem Stuart-Fall gemeinsam wie Howard Beach mit Miami Beach, aber hier draußen vor einem Store 24 konnte ich nicht viel dagegen tun.
Angie schnaufte verächtlich, und ich wußte, daß sie den gleichen Artikel las. Ich sagte: »Laß mich raten - du liest gerade das rassistisch motivierte«
Sie nickte. »Mann, bist du abgebrüht, daß du dem armen Jungen die Uzi in die Hand gedrückt hast und ihn gezwungen hast abzudrücken.«
»Ich weiß wirklich nicht, was manchmal über mich kommt.«
»Du hättest versuchen sollen, mit ihm zu reden, Patrick. Hättest ihm sagen sollen, daß du für sein entbehrungsreiches Leben Verständnis hast, das ihm die Pistole in die Hand gedrückt hat.«
»Ich bin so ein richtiges Arschloch.« Ich warf die Zeitung auf den Rücksitz, setzte mich hinters Lenkrad und fuhr los in Richtung Stadt. Angie las im schwachen Licht die Zeitung und atmete schwer durch die Nase. Schließlich zerknüllte sie sie in der Hand und warf sie auf den Boden.
Sie rief: »Wie können die sich noch

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