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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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überhaupt nicht mehr atmen.
Ich preßte hervor: »Ja, ruf die Feuerwehr an.« Es klang lustig, zu reden, während man den Atem anhält, ungefähr wie Donald Duck mit einer Erkältung. Dann schloß ich die Augen und sagte: »Warte. Guck zuerst mal unter dem Stuhl nach.«
Es war ein alter Holzstuhl.
Angie legte das Telefon wieder weg. Sie kniete sich neben mich. Es dauerte ein bißchen. Keiner hat das Gesicht gerne wenige Zentimeter von einem explosiven Stoff entfernt. Sie kroch mit dem Kopf unter den Stuhl, und ich hörte, daß sie laut ausatmete. Sie meldete: »Ich kann nichts sehen.«
Ich atmete wieder, hielt dann aber erneut inne. Womöglich war die Bombe im Holz drin. Ich fragte: »Kannst du sehen, ob jemand am Holz herumgefummelt hat?«
»Was? Ich kann dich nicht verstehen.«
Ich riskierte es und atmete aus, dann wiederholte ich meine Frage.
Mir kam es vor, als würde sie sich sechs oder sieben Stunden dort unten aufhalten, bevor sie antwortete: »Nein.« Sie rutschte unter dem Stuhl hervor und setzte sich auf den Boden. »Unter deinem Stuhl ist keine Bombe, Patrick.«
»Super«, lächelte ich.
»Und?«
»Und was?«
»Stehst du jetzt auf?«
Ich stellte mir vor, daß mein Arsch an mir vorbeiflog. »Wieso, haben wir’s eilig?«
»Nein«, erwiderte sie. »Warum stehst du nicht auf?«
»Vielleicht sitze ich gerne hier.«
»Steh auf!« befahl sie mir und erhob sich selbst. Dann hielt sie mir die Hände hin.
»Ich bereite mich gerade drauf vor.«
»Steh auf«, wiederholte sie. »Komm zu mir, Baby.«
Ich gehorchte. Ich legte die Arme auf den Stuhl und gehorchte. Nur daß ich immer noch saß. Mein Gehirn hatte die Bewegung ausgeführt, aber mein Körper war anderer Meinung. Wie professionell waren Socias Leute? Konnten sie eine Bombe spurlos in einem Holzstuhl verstecken? Natürlich nicht. Ich hab schon von vielen Todesarten gehört, aber noch nicht, daß jemand durch eine vollkommen unsichtbare Bombe in einem dünnen Holzstuhl in die Luft flog. Aber ich konnte natürlich die Ehre haben, der erste zu sein.
»Scooter?«
»Ja?«
»Bist du soweit?«
»Okay, ja, wart mal…«
Sie ergriff meine Hände und riß mich vom Stuhl hoch. Ich prallte gegen sie, und zusammen fielen wir auf den Schreibtisch und gingen nicht in die Luft. Sie lachte, auch so was wie eine Explosion, und mir wurde klar, daß sie selbst nicht ganz sicher gewesen war. Aber trotzdem hatte sie mich hochgezogen. »Du liebe Güte«, stöhnte sie.
Ich fing auch an zu lachen, lachte wie jemand, der seit einer Woche nicht geschlafen hatte, ein hysterisches, besinnungsloses Lachen. Ich hielt sie fest, hatte die Hände um ihre Hüfte gelegt, ihre Brüste hoben und senkten sich an meiner Brust. Beide waren wir schweißgebadet, doch ihre Augen glänzten, die dunklen Pupillen waren groß, trunken vor Freude über diesen Augenblick, der nicht unser letzter auf Erden war.
Da küßte ich sie, und sie erwiderte den Kuß. Einen Moment lang wurde alles verstärkt - der Klang einer Autohupe vier Stockwerke unter uns, der Geruch einer kühlen Sommernacht, vermischt mit Frühjahrsstaub auf der Fensterscheibe, der salzige Hauch frischen Schweißes an unserem Haaransatz, der leichte Schmerz meiner noch geschwollenen Lippen, der Geschmack ihrer Lippen und ihrer Zunge, die noch immer etwas kalt war von dem Bier, das wir vor einer Stunde getrunken hatten.
Dann klingelte das Telefon.
Sie setzte mir die Hände auf die Brust und drückte mich weg, dann schlüpfte sie unter mir hindurch und schob sich am Schreibtisch entlang. Sie lächelte, aber es wirkte, als glaubte sie selbst nicht daran, und ihre Augen nahmen schon wieder den Ausdruck von Bedauern und Angst an. Nur Gott weiß, was in meinen Augen geschrieben stand.
Ich meldete mich mit einem rauhen: »Hallo.«
»Sitzt du immer noch?«
»Nein«, antwortete ich, »ich gucke gerade aus dem Fenster und suche meinen Arsch.«
»Ähem. Tja, vergiß das nicht, Kenzie: Jeder kann jeden erwischen, und jeder kann dich erwischen.«
»Was kann ich für dich tun, Marion?«
»Mich treffen und mit mir reden.«
»Muß ich wohl, ja?«
»Darauf kannst du deinen Arsch wetten.« Er kicherte leise.
»Tja, Marion, ich muß dir leider sagen, daß ich bis Oktober ausgebucht bin. Warum versuchst du’s nicht so um Halloween noch mal?«
Er sagte nur: »Howe Street zweihundertfünf.« Mehr brauchte er nicht sagen. Das war Angies Adresse.
»Wann und wo?«
Er kicherte nochmals leise. Er hatte mich durchschaut und wußte es, und ihm war klar, daß ich es auch

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