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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Tüte zusammengehalten wurde, griff hinein und nahm einen Aktenhefter in die Hand, der etwa einen halben Zentimeter dick war. Ich zog ihn heraus und öffnete ihn. Er enthielt Fotos.
Ich stellte mich hin und breitete sie auf der Bank aus. Es waren insgesamt einundzwanzig, auf ihrer Oberfläche zeichneten sich dreieckige Muster ab, die das Licht durch die Bleiglasfenster warf. Auf keinem der Fotos war etwas dargestellt, das ich mir ansehen wollte; alle zeigten Dinge, die ich mir ansehen mußte.
Sie waren mit derselben Kamera aus dem gleichen Winkel aufgenommen worden wie das Foto, das Jenna mir gegeben hatte. Paulson war auf den meisten zu sehen, Socia nur auf wenigen. Es war dasselbe schäbige Motelzimmer, derselbe grobkörnige Film, derselbe Winkel, was mich zu der Schlußfolgerung brachte, daß es sich hier um Standbilder eines Videobandes handelte, wobei die Kamera in zwei Meter fünfzig bis drei Meter Höhe angebracht gewesen sein mußte, wahrscheinlich hinter einem doppelten Spiegel.
Auf den meisten Fotos hatte sich Paulson seiner Unterwäsche entledigt, die schwarzen Socken jedoch anbehalten. Er schien auf dem kleinen Doppelbett mit dem zerrissenen, befleckten Laken seinen Spaß zu haben.
Das konnte man von dem anderen Menschen auf dem Bett nicht behaupten. Das Objekt von Paulsons Zuneigung - wenn man es so nennen konnte - war ein Kind. Ein junger, extrem dünner Schwarzer, der nicht älter als zehn oder elf Jahre sein konnte. Er trug keine Socken. Er trug überhaupt nichts. Er schien nicht soviel Spaß zu haben wie Paulson.
Er schien sehr viel Schmerzen zu haben.
Sechzehn der einundzwanzig Fotos hielten den Geschlechtsakt selbst fest. Auf einigen von ihnen tauchte Socia auf, er lehnte im Türrahmen und schien Paulson offenbar Anweisungen zu geben. Auf einem hielt Socias Hand den Hinterkopf des Kindes gepackt und riß ihn an Paulsons Brust, wie ein Reiter an den Zügeln seines Pferdes zerrt. Paulson schien das nichts auszumachen, er schien es gar nicht zu bemerken, so sehr glänzten seine Augen, die Lippen vor Lust verzogen.
Dem Kind schien es etwas auszumachen.
Von den übrigen fünf Bildern zeigten vier Paulson und Socia, die eine dunkle Flüssigkeit aus Zahnputzbechern tranken. Gegen die Kommode gelehnt, quatschten sie ein bißchen, hatten offenbar eine Menge Spaß. Auf einem von ihnen waren, nicht ganz scharf, die dünnen Beinchen des Jungen zu sehen, sie waren in die schmierigen Bettlaken verheddert.
Angie sagte mit hoher, gebrochener Stimme: »Oh, mein Gott«, und es klang, als sagte es jemand anders. Sie hatte die Fingerknöchel ihrer rechten Hand in den Mund gepreßt, die weiße Haut legte sich in Falten. Aus ihren Augenhöhlen quollen Tränen. Einen Moment lang erfüllte mich die warme, ehrfürchtige Luft der Kirche, legte sich wie ein schweres Gewicht auf meine Brust und machte mich ein wenig benommen. Dann sah ich wieder auf die Fotos herunter, und ich spürte in mir die Übelkeit hochkommen.
Ich zwang mich, die Bilder anzusehen, den Blick nicht abschweifen zu lassen, und schnell wurde er auf das einundzwanzigste gelenkt, so wie die Augen manchmal herumirren und dann an einer hellen Flamme in der untersten Ecke eines schwarzen Bildschirms hängenbleiben. Ich wußte, dies war das Foto, das mich in meinen Träumen verfolgen würde, das sich bereits in die dunkle Seite meiner Seele gebrannt hatte, über die ich keine Kontrolle habe. Mit bösartiger Grausamkeit würde sein Abbild für den Rest meines Lebens immer wieder auftauchen, wenn ich am wenigsten damit rechnete. Das Foto war nicht während des Aktes aufgenommen worden, sondern hinterher. Der Junge saß auf dem Bett, unbekleidet und teilnahmslos. Seine Augen hatten das geisterhafte Bild dessen angenommen, was er schon aufgehört hatte zu sein. In diesen Augen lag der verkümmerte Ausdruck von zerstörter Hoffnung. Es waren die Augen einer Seele, die unter dem Gewicht einer unermeßlichen Last zusammengebrochen war. Die Augen eines lebenden Toten, dessen Besitzer seinen eigenen Verlust, seine Nacktheit nicht mehr erkennen konnte.
Ich schob die Aufnahmen zu einem Haufen zusammen und schloß die Mappe. In mir machte sich ein Gefühl der Taubheit breit, es überdeckte langsam den Schrecken und die Verwirrung. Ich sah Angie an und konnte erkennen, daß in ihr derselbe Vorgang stattfand. Sie zitterte nicht mehr, sondern stand ganz still da. Es war kein schönes Gefühl, wahrscheinlich setzte es einem auf lange Sicht sogar mehr zu, doch im Moment war es

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