Streng vertraulich
einer Reihe Lkw auf die nächste Ecke zuliefen. Wir mischten uns in den Verkehr und stürmten um den Häuserblock auf die Atlantic Street zu. An der Ecke hielten wir inne, holten ein paarmal tief Luft, wagten nicht auszuatmen, als zwei weitere Streifenwagen an uns vorbeirasten. Wir warteten auf Grün, der Schweiß lief mir die Schläfen herunter. Als die Ampel umsprang, überquerten wir die Atlantic Street, gingen durch den Torbogen mit dem roten Drachen und befanden uns in Chinatown. Wir liefen die Beach Street hoch, vorbei an ein paar Männern, die Fisch auftauten, und an einer Frau, die an der Hinterseite eines winzigen Ladedocks einen Eimer stinkende Wasser ausschüttete, vorbei an einem alten vietnamesischen Ehepaar, das noch immer in die Stoffe gekleidet war, die es schon während der französischen Besatzung getragen hatte. Ein kleiner Mann in einem weißen Hemd stritt sich mit einem fetten italienischen Lkw-Fahrer. Der Fahrer sagte immer wieder: »Wir fahren jeden Tag hier durch. Sprech Englisch, verdammt noch mal«, und der Kleine sagte: »Sprech kein Englisch. Ihr wollt zuviel Geld haben, verdammt noch mal.« Als wir an ihm vorbeigingen, sagte der Lkw-Fahrer: »Also, ›zuviel Geld‹, das kann ich verstehen.« Der Kleine sah aus, als wolle er ihn erschießen.
An der Ecke Beach, Harrison nahmen wir uns ein Taxi und sagten dem iranischen Fahrer, wohin wir wollten. Er sah uns im Rückspiegel an: »Scheißtag?«
Egal wo man ist, Wörter wie »Scheißtag« und »zuviel Geld« scheinen zu einer universellen Sprache zu gehören. Ich sah ihn an und nickte. »Scheißtag.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich auch«, erwiderte er und fuhr auf die Schnellstraße.
Angie lehnte den Kopf gegen meine Schulter. »Was ist mit Bubba?« Ihre Stimme war rauh und dunkel.
»Ich weiß nicht«, entgegnete ich und blickte auf die Plastiktüte auf meinem Schoß.
Sie nahm meine Hand, und ich hielt sie fest.
25_____
Ich saß in der ersten Bank in St. Bart’s und sah Angie zu, die eine Kerze für Bubba anzündete. Sie stand einen Augenblick davor und schirmte sie mit der Hand ab, bis die gelbe Flamme den Sauerstoff aufnahm. Dann kniete sie sich hin und senkte den Kopf.
Ich wollte auch gerade den Kopf senken, hielt dann jedoch wie immer auf halbem Wege inne.
Ich glaube an Gott. Vielleicht nicht an den katholischen oder sogar an den christlichen, weil es mir schwerfällt, zu glauben, daß ein Gott elitär sein kann. Auch fällt es mir schwer, zu glauben, daß ein Etwas, das Regenwälder, Weltmeere und das unendliche Universum erschaffen hat, gleichzeitig so etwas Unnatürliches wie die Menschheit nach seinem eigenen Bilde hervorgebracht haben soll. Ich glaube an Gott, aber nicht als ein Er oder eine Sie oder ein Es, sondern als ein Etwas, das sich innerhalb der sehr eng gesteckten Grenzen meiner Vorstellungskraft einer Begrifflichkeit entzieht.
Ich habe vor langer Zeit mit dem Beten aufgehört, oder damit, den Kopf zu senken. Ungefähr zu der Zeit, als meine Gebete zu einem monotonen Geflüster geworden waren, in dem ich um den Tod des Helden flehte und um den Mut, der notwendig war, wenn ich ihn beschleunigen wollte. Den Mut habe ich nie gehabt, und der Tod kam langsam, ich mußte seinem Wirken mit einem Rest ohnmächtiger Gefühle zusehen. Danach ging das Leben weiter, und jeglicher Kontakt zwischen Gott und mir war abgerissen, er war mit meinem Vater unter der Erde vergraben worden.
Angie erhob sich, bekreuzigte sich und ging vom Altar zur Bank. Dort stand sie, blickte auf die Tüte neben mir und wartete.
Wegen dieser unschuldig wirkenden Tüte war Bubba tot, lag im Sterben oder war lebensgefährlich verletzt. Jenna war auch tot. Ebenso Curtis Moore und zwei oder drei Typen auf dem Bahnhof sowie zwölf unbekannte Straßenkinder, die sich wahrscheinlich schon lange mausetot gefühlt hatten. Wenn dies alles vorbei sein würde, würden auch Socia oder ich in dieser Statistik mitgezählt. Vielleicht wir beide. Vielleicht Angie. Vielleicht Roland.
Eine Menge Schmerz für eine simple Plastiktüte.
»Sie kommen bestimmt bald«, mahnte Angie. »Mach sie auf!«
Mit »sie« meinte sie die Polizei. Devin und Oscar würden nicht lange brauchen, um den unbekannten weißen Mann und die unbekannte weiße Frau zu identifizieren, die sich am Bahnhof eine Schießerei mit Mitgliedern einer Straßengang geliefert hatten, wobei ihnen ein stadtbekannter Waffenschmuggler namens Bubba Rogowski behilflich gewesen war.
Ich lockerte die Schnur, mit der die
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