Stresstest Deutschland
noch unausweichlich.
Steuersenkungen durch die Hintertür
Schulen kosten Geld, Universitäten kosten Geld, und auch Fortbildungsmaßnahmen für Erwerbslose kosten richtig viel Geld. Will man gleiche Bildungschancen für alle unabhängig von Einkommen oder Herkunft, muss der Staat tief in die Tasche greifen. Wegen der andauernden Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte findet dies jedoch nicht statt. Schüler müssen nicht nur wegen des bereits chronischen Lehrermangels, sondern immer öfter auch wegen technischer Mängel an den Schulen zu Hause bleiben. Dächer, durch die es regnet, defekte Heizungen, gravierende Mängel beim Brandschutz – stellenweise erinnern deutsche Schulen nicht an die Bildungsrepublik, die Kanzlerin Merkel im Jahre 2008 ausgerufen hat, sondern an Bilder in Dokumentarfilmen aus Tschetschenien oder Moldawien.
Anders als die – ebenfalls chronisch unterfinanzierten – Universitäten, müssen die öffentlichen Schulen nicht durch den Bund, sondern durch die Kommunen finanziert werden. Hat der Bund noch einen gewissen finanziellen Spielraum, stehen die Kommunen schon seit längerem finanziell an der Wand, müssen sie doch über die Gewerbesteuer einen Teil der großzügigen Steuergeschenke der hohen Politik in Berlin mittragen. Der unfreiwillige Sparkurs hat zu einem riesigen Investitionsstau geführt, der vielerorts bereits durch Mängel an öffentlichen Gebäuden und Straßen sichtbar wird. Das Deutsche Institut für Urbanistik beziffert den kommunalen Investitionsbedarf für die Jahre 2006 bis 2020 mit 704 Milliarden Euro. 4 Woher soll dieses Geld kommen? Anstatt eine dringend notwendige Steuererhöhungsdebatte zu führen, vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht irgendein Politiker Gedanken darüber macht, wie man die Steuern noch weiter senken könnte. Wobei der Begriff »Steuersenkung« seit dem politischen Debakel der Steuersenkungspartei FDP in letzter Zeit lieber gemieden wird – stattdessen spricht man lieber von »Steuervereinfachung«, was aber letzten Endes auf dasselbe hinausläuft.
Verbindet der Bürger die Forderung nach einer Steuersenkung gerade in Krisenzeiten mittlerweile am ehesten mit FDP -Politikern, die bockig wie kleine Kinder schmollen, bis sie ihren Willen bekommen, hat der Ruf nach einer Steuervereinfachung schon einen besseren Klang. Der öffentlichen Meinung zufolge ist das deutsche Steuersystem ganz fürchterlich kompliziert. Fragt sich, womit die Bürger diese Einschätzung begründen – ein normaler Arbeitnehmer sollte eigentlich keine sonderlichen Probleme mit dem Ausfüllen seiner Steuererklärung haben. Es scheint vielmehr so, als habe die Politik über die Jahre hinweg mühsam einen Mythos geschaffen, der nun nicht mehr aus den Köpfen zu kriegen ist.
2003 setzte Edmund Stoiber diesen Mythos in die Welt, als er öffentlich polterte, dass das deutsche Steuersystem derart kompliziert sei, dass mittlerweile sechzig Prozent der aktuellen Steuerliteratur aus Deutschland stammten. Im Bundestagswahlkampf 2009 griff Guido Westerwelle diese Steilvorlage auf und machte aus den »sechzig Prozent« gleich einmal »siebzig bis achtzig Prozent«. So schön diese Anekdote, die mittlerweile in unzähligen Talk-Shows unter das Volk gebracht wurde, auch ist – sie ist schlichtweg falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen des Finanzforschers Albert Rädler kamen vielmehr zu dem Ergebnis, dass nur zwischen zehn und fünfzehn Prozent der internationalen Steuerliteratur aus Deutschland kommen. 5 Dies deckt sich mit den Untersuchungen der Beratungsfirma Pricewaterhouse Coopers, die zusammen mit der Weltbank die für Unternehmen relevante Seitenzahl der Steuergesetzgebung in den zwanzig größten Volkswirtschaften untersucht hat. 6 Deutschland liegt bei dieser Untersuchung mit 1 700 Seiten im Mittelfeld – weit hinter den USA mit 5 100 Seiten, Großbritannien mit 8 300 Seiten und Spitzenreiter Indien mit 9 000 Seiten. So dicht kann der deutsche Steuerdschungel also nicht sein.
Bei näherer Betrachtung sind sämtliche bislang veröffentlichten Vorschläge zur Steuervereinfachung schlicht und einfach maskierte Vorschläge zu einer Steuersenkung, von der vor allem die Spitzenverdiener profitieren. Wenn sich beispielsweise einPaul Kirchhof vor die Mikrophone stellt und behauptet, sein Dreistufen-Einkommensteuer-Modell sei sozial und würde vor allem Niedriglohnempfänger entlasten, so ist dies nichts weiter als Hohn für die Betroffenen. 7 Während kinderlose Alleinstehende
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