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Stresstest Deutschland

Stresstest Deutschland

Titel: Stresstest Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Berger
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Steuersystems, um Einkommensunterschiede auszugleichen. Neben den skandinavischen Ländern zählen auch die USA dazu, was hierzulande kaum bekannt ist. Dort lagen die Spitzensteuersätze (Marginal Income Tax) zwischen 1936 und 1981 durchgängig über siebzig Prozent. Zwischen 1946 und 1964 wurden Einkommen über 200 000 US -Dollar pro Jahr sogar durchgängig mit 91
    Prozent besteuert. 3 Rechnet man diese Einkommensgrenze anhand der Preissteigerungen hoch, so würden diese 200 000 US -Dollar heutigen Einkommen von mehr als einer Million US -Dollar entsprechen. Es handelte sich also im wahrsten Sinne des Wortes um eine Reichensteuer. Man kann sicherlich nicht sagen, dass die Nachkriegsjahrzehnte für die USA eine Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs waren. Im Gegenteil, diese Periode war es, die auch diesseits des Atlantiks immer wieder mit dem »amerikanischen Traum« in Verbindung gebracht wird. Dieser Traum ist sehr eng mit den Spitzensteuersätzen und der politischen Bereitschaft, Geld von oben nach unten zu verteilen, verbunden. Der Ökonom Paul Krugman teilt das vergangene Jahrhundert in seinem Buch The Conscience of a Liberal in vier Perioden ein:
      die Zeit bis 1937 (das goldene Zeitalter), in der in den USA große Einkommensunterschiede vorherrschten und die Politik kein Interesse daran hatte, dieses Ungleichgewicht zu vermindern
      die Zeit von 1937 bis 1945 (die große Kompression), in der die Einkommensschere durch eine rigide Besteuerung von Vermögen und Einkommen und eine soziale Wirtschaftspolitik (New Deal) geschlossen wurde
      die Zeit von 1945 bis Ende der 1970er Jahre (das Mittelschicht-Amerika), in der es weder extremen Reichtum noch extreme Armut gab und in der die Einkommensschere durch eine progressive Steuerpolitik geschlossen blieb
      die Zeit ab dem Ende der 1970er Jahre (das große Auseinandergehen), in der die Spitzensteuersätze massiv gesenkt wurden und die Einkommensschere sich wieder weit geöffnet hat, was dazu führte, dass es erneut mehr Reiche und Arme gibt
    Direkte Vergleiche zwischen Deutschland und den USA sind schon allein aufgrund der unterschiedlichen Wirtschaftssysteme vor und während des Zweiten Weltkriegs nicht statthaft. Man kann jedoch deutliche Parallelen für die Nachkriegszeit ziehen. Auch in Deutschland gab es in der Nachkriegszeit den politischen
    Willen, über das Steuersystem Einkommensunterschiede auszugleichen und damit soziale Gerechtigkeit herzustellen. Auch wenn der deutsche Spitzensteuersatz in den Jahren 1958 bis 1999 mit 53 bis 56 Prozent nie so hoch war wie in den USA während der Periode des »Mittelschicht-Amerikas«, so gab es dennoch ein klares Bekenntnis zu einer steuerlichen Umverteilung von oben nach unten. Die Periode des »großen Auseinandergehens« setzte in Deutschland wesentlich später als in den USA (oder auch in Großbritannien) ein.
    Erst die rot-grüne Regierung legte die Axt an den Spitzensteuersatz an und senkte ihn zwischen 1999 und 2005 von 53 Prozent auf 42 Prozent. Anstatt von oben nach unten wird heute verstärkt von unten nach oben umverteilt. Während die Besteuerung von Vermögen gestrichen und die Besteuerung von Kapitaleinkünften und Veräußerungsgewinnen durch die Einführung der Abgeltungssteuer gegenüber den 1990er Jahren kurzerhand halbiert wurde, erhöhte die große Koalition 2005 die Mehrwertsteuer um satte drei Prozentpunkte. Den Armen wird’s genommen, den Reichen wird’s gegeben … – das Robin-Hood-Prinzip einmal umgekehrt.
    Die soziale Marktwirtschaft war stets als Korrektiv für gesellschaftliche Ungleichheiten gedacht. Spätestens seit der rot-grünen Regierungszeit wurde dieses Korrektiv jedoch ohne Not Schritt für Schritt beseitigt. Die Debatte über einen gerechten Lohn ist zwar nicht neu, die Bedeutung dieser Debatte ist jedoch heute wichtiger denn je. Der Umstand, dass unterschiedliche Löhne heute als ungerecht empfunden werden, hat mit dem Niedergang der sozialen Marktwirtschaft und dem Siegeszug des Neoliberalismus zu tun. Hätte einer der heutigen Politiker dem alten Ludwig Erhard gesagt, das oberste volkswirtschaftliche Ziel habe die Entlastung der »Leistungsträger« zu sein, hätte er wohl – vollkommen zu Recht – eine verbale Kasperklatsche bekommen. Die Politik hat – wenn sie es denn nur wollte – alle Möglichkeiten in der Hand, dafür zu sorgen, dass die Einkommen nach Steuern und Transferleistungen wieder gerecht werden. Stark ungleiche Löhne sind weder ein Naturgesetz

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