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Stresstest Deutschland

Stresstest Deutschland

Titel: Stresstest Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Berger
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gemildert würden. Um dies zu erreichen, müssten die Löhne in Deutschland über einen längeren Zeitraum deutlich stärker steigen als im Rest der Eurozone. Nur wenn Deutschland seine Lohnstückkosten im nächsten Jahrzehnt um zwanzig Prozent mehr als der Rest der Eurozone erhöhen würde, wäre die gegenteilige Entwicklung des letzten Jahrzehnts wieder ausgeglichen. Auf eine solche Reform habendie deutschen Arbeitnehmer sicherlich schon lange gewartet, würden sie doch zu den Gewinnern einer Angleichung nach oben zählen. Auch die Wirtschaft wäre in Form der drei Viertel aller Unternehmen, die nicht direkt oder indirekt vom Export, sondern von der Binnennachfrage abhängen, zweifelsohne der Gewinner einer solchen Anpassung.
    Es bestehen jedoch berechtigte Zweifel, dass den Meinungsmachern dieser Republik so viel Vernunft überhaupt vermittelbar ist. Sie trommeln nun bereits seit mehr als einem Jahrzehnt, dass alles Glück der Erde in der Enthaltsamkeit der Arbeitnehmer läge, dass das Gürtel-enger-Schnallen alternativlos sei und die Interessen der Exportwirtschaft das oberste Credo aller menschlichen Bestrebungen bilden. Die katholische Kirche hat 350 Jahre gebraucht, um Galileo Galilei zu rehabilitieren und damit einzugestehen, dass die Erde sich doch um die Sonne dreht. Wie lange werden die neoliberalen Apologeten brauchen, um einzugestehen, dass man durch Lohndumping keinen Wohlstand für alle erreichen kann?
    Als die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde im März 2010 in einem Interview mit der Financial Times nur zart anmerkte, dass die deutschen Handelsbilanzüberschüsse ein Problem darstellten und es Aufgabe Berlins wäre, diese Überschüsse abzubauen, herrschte Empörung in der deutschen Politszene. 22 Der damalige deutsche Wirtschaftsminister Brüderle schwadronierte etwas von »Neid auf den Klassenbesten« 23 und gehörte damit noch zu den niveauvolleren Kommentatoren. Christine Lagarde ist mit ihrer Kritik beileibe nicht allein. Sogar der deutschlandtreue Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker forderte bereits häufiger, dass Deutschland seine Löhne anheben müsse, um die Schieflage innerhalb der Eurozone abzubauen. Auch namhafte Ökonomen, beispielsweise der Chefökonom der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen, Heiner Flassbeck, oder der Wirtschaftsweise Peter Bofinger, forderten bereits mehrfach, das deutsche Lohngefüge anzuheben. Sie befinden sich damit in bester Gesellschaft mit den Wirt-schaftsnobelpreisträgernPaul Krugman, George Akerlof und Joseph Stiglitz. Jenseits von Rhein und Oder ist diese Position keine Außenseiter-, sondern Mehrheitsmeinung.
    Auch wenn Deutschland auf solche berechtigten Forderungen stets nur in einer arroganten Art und Weise antwortet, konnte die deutsche Regierung es nicht verhindern, dass sogar die EU eine Richtlinie verabschiedete, die nicht nur Bilanzdefizitsündern, sondern auch Bilanzüberschusssündern mit empfindlichen Strafen droht, wenn diese nicht dafür sorgen, dass die Handelsbilanzüberschüsse unter sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts sinken. Jedoch konnte Deutschland, das diese Grenze jedes Jahr mit »Bravour« überschreitet, bis jetzt stets erfolgreich verhindern, 24 dass diese Regeln auch umgesetzt werden. Was soll man also machen, wenn sich die Bundesregierung in ihrem Exportwahn sogar über vereinbarte Regeln hinwegsetzt? Eine echte Wende scheint mit dem vorhandenen politischen Personal nicht machbar, ein Umdenken ist leider weit und breit nicht in Sicht.
    Mit Vollgas in die Sackgasse
    Das deutsche Wirtschaftssystem könnte aufgrund seiner Stärke ein Segen für das Land sein. Leider hat sich hierzulande eine Ideologie breitgemacht, die darauf abzielt, durch Lohndumping internationale Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Davon profitieren jedoch nur die oberen Zehntausend, denen die Gewinne aus Dividendenzahlungen und Unternehmensgewinnen zufließen – für die unteren 99 Prozent der Bevölkerung bedeutet dies eine unfreiwillige Rosskur.
    Dass die deutsche Wirtschaft sehr leistungsfähig ist, wird niemand bestreiten wollen. Das Problem fängt jedoch bereits mit der Definition des Begriffs Wirtschaft an. Wenn in der Politik oder den Medien von »Wirtschaft« die Rede ist, meint man eigentlich die Großindustrie und den Groß- und Außenhandel. Dabei gehören selbstverständlich auch das Handwerk, der Einzelhandel, lo-kaleDienstleister, Kultur, Medien und alle Bereiche, die man unter der Kategorie

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