Stresstest Deutschland
Interessen der Finanzmärkte nur allzu genau kennt, abgelöst wirst.
Diese ganz offensichtlichen Verstöße gegen demokratische Gepflogenheiten werden dabei mit einer Art übergesetzlichem Notstand begründet. Sowohl die Politik als auch die Medien sind fest davon überzeugt, dass es im Sinne des Allgemeinwohls sei, wenn man in Krisenzeiten demokratische Grundwerte außer acht lässt. Die Finanzwirtschaft hat es geschafft, der Öffentlichkeit vorzugaukeln, dass ihre Partikularinteressen mit den Interessen der Allgemeinheit gleichzusetzen sind. Vor allem die Teilprivatisierung der Altersvorsorgesysteme war ein Eckpfeiler in diesem Konzept. Wer in seinem Alter auf die Renditen der Finanzmärkte angewiesen ist, hat auch ein eigenes Interesse daran, diese Renditen zu steigern und den Banken und Versicherungen möglichst wenig Steine in den Weg zu legen. Wir sind erpressbar geworden, und die Finanzmärkte wissen dies nur allzu genau.
Wie ist es den Finanzmärkten gelungen, die Politik zu ihren Marionetten zu machen? Ist die Politik überhaupt eine Getriebene? Wenn man sich die Kommentare zur Eurokrise anschaut, so ist das Lager der Kommentatoren zweigeteilt. Die einen stehen hinter der von der deutschen Regierung propagierten neoliberalen Sanierung der Staatshaushalte durch radikale Einsparungen und halten dies für die einzig wirksame Methode, die Märkte zu besänftigen. Die anderen zweifeln nicht nur an der Grundanalyse, nach der die Staatsschulden ursächlich für die Krise sind, sondern gehen darüber hinaus davon aus, dass die »Retter« ideologisch verbohrt sind und sich von den Finanzmärkten vor sich hertreiben lassen. Was wäre aber, wenn beide Seiten falsch liegen und die neoliberal denkende Bundesregierung die Krise mit Vorsatz eskalieren lässt, um Europa einer neoliberalen Schockstrategie zu unterziehen? Undenkbar? Die Alternative zu diesem Erklärungsmuster wäre es, dass die deutschen politischen Eliten denWald vor lauter Bäumen nicht sehen und in einer der wichtigsten Fragen der politischen Zukunft Europas total versagen.
Um diese Fragen zu beantworten, muss man etwas tiefer in die Materie vordringen. Man muss die Frage beantworten, wer oder was die Finanzmärkte eigentlich sind, was Staatsanleihen sind und warum die Kaufzurückhaltung der Märkte Europa in eine Krise stürzen konnte.
Spekulantenbilder
Wer sind eigentlich »die Finanzmärkte«? Das menschliche Hirn neigt zur Vereinfachung. Schon unsere Vorfahren in der grauen Vorzeit konnten sich nicht damit abfinden, dass ihr Leben sich innerhalb eines höchst komplexen und dynamischen Systems abspielt. Um mit der Komplexität leben zu können, dachte sich der Mensch Götter und Dämonen aus. Fiel die Ernte schlecht aus, so hieß es, die Götter zürnten uns Menschen. Die Götter unserer heutigen komplexen Welt sind die Finanzmärkte, die Dämonen sind Spekulanten und Investmentbanker. Als sich in den späten 1980er Jahren das System des spekulationsbasierten Investmentbankings etablierte, entstand die Kunstfigur Gordon Gekko aus Oliver Stones Spielfilm Wall Street , die seitdem als Stereotyp des skrupellosen Finanzcowboys in den Köpfen der Menschen herumspukt. Ein Stereotyp beinhaltet natürlich immer auch ein Körnchen Wahrheit. Es gab sie, die »Wall-Street-Cowboys« mit ihren breiten Hosenträgern und ihrem selbstsicheren und großspurigen Auftreten. Mit James Cayne, einst Chef der Investmentbank Bear Stearns, der über die Immobilienkrise stürzte, wurde allerdings das letzte Prachtexemplar dieser Gattung hinweggefegt.
Ein realistischeres Stereotyp schuf Tom Wolfe 1987 in seinem berühmten Roman Fegefeuer der Eitelkeiten . Dessen Protagonist Sherman McCoy ist der Prototyp des Goldman-Sachs-Bankers: weiß, gebildet, feingeistig, aus gutem Hause, mit guten Manieren und dem stolzen »Yale-Kinn«, ein moderner »Master of the Uni-verse«in einem Umfeld des großen Geldes und der großen Macht. Die Sherman McCoys dieser Welt sitzen heute nicht nur in den Chefetagen der Banken und Hedge-Fonds, sie haben auch den Sprung in die hohen Positionen der Politik geschafft und gestalten die Parameter, innerhalb derer ihr System gedeihen kann.
Die späten 1980er und die 1990er Jahre waren die Zeit der Gordon Gekkos und der Sherman McCoys. In jenen Tagen waren »die Finanzmärkte« ein loser Bund von Spekulanten, die entdeckten, dass sie mit der Wolfsrudeltaktik auch große Gegner reißen können. Heute funktionieren »die Finanzmärkte« eher wie ein
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