Striptease: Roman (German Edition)
verfolgten die Brüder gespannt das Programm von C-Span auf der Satellitenschüssel, sahen jedoch keinen Bericht von der Rettungsaktion am Clark Fork oder von ihrer Mitwirkung. Ruhm wurde den Skylers auf etwas bescheidenere Weise zuteil: Sie brauchten während der nächsten Jahre in der Lozeau Lounge für ihr Bier nichts zu bezahlen.
Die Kinder von Al Garcías zweiter Frau nannten ihn Al, und das war in Ordnung. »Dad« kam nicht in Frage. Die Kinder hatten bereits einen Vater, der dank Al García im Gefängnis saß.
Auf diese Art und Weise hatte García seine zweite Frau kennengelernt – während er ihren Ehemann wegen eines Drogenmords verhaftete. Es gab keinerlei Animositäten. Sechs Monate nach der Gerichtsverhandlung reichte sie die Scheidung ein und heiratete Al.
Vom Haschischdealer zum Detective des Morddezernats, hatte García zu ihr gesagt, ist es in dieser Welt ein ziemlicher Sprung nach oben. Aber kein großer, hatte Donna erwidert. Donna war sehr schlagfertig. Die Kinder waren auch in Ordnung: ein Junge und ein Mädchen, acht und neun oder neun und zehn Jahre alt – García hatte Schwierigkeiten, sich das zu merken. Insgesamt hatte er die Kinder sehr gerne und verspürte wegen der Umstände keinerlei Schuldgefühle.
Als der Junge ihn das erste Mal fragte, wann sein richtiger Dad aus dem Gefängnis komme, ergriff Al García seine kleine Hand und sagte: »Niemals, Andy.« Als der Junge fragte, weshalb nicht, antwortete García: »Weil dein Daddy einem Mann zwischen die Augen geschossen hat.« Andy begriff die Tragweite dieses Vorfalls. Seine Schwester, Lynne, die entweder ein Jahr älter oder ein Jahr jünger war, meinte, vielleicht habe ihr Dad einen guten Grund gehabt, den anderen Burschen zu erschießen. Hunderttausend Gründe, hatte Al García erwidert, aber keiner sei gut genug gewesen. In diesem Augenblick war Donna aus der Küche gestürzt und hatte ihnen befohlen, endlich davon aufzuhören.
Als der Zeitpunkt für ihren ersten Familienurlaub heranrückte, entschied Donna sich für West-Montana, denn sie und die Kinder hatten noch nie Berge gesehen. Al García war damit einverstanden. Er führte einige Telefongespräche und brachte in Erfahrung, daß Montana mit all seinem Wildwestzauber eine sichere und ruhige Gegend war. Es gab Straßenkreuzungen in Dade County mit einer weitaus höheren Mordrate.
Donna mietete eine kleine Blockhütte am Clark Fork River, etwa sechzig Meilen von Missoula entfernt. García war zwar kein Naturfreund, aber ein Häuschen am Wasser schien eine glänzende Idee. Er versprach Andy und Lynne, daß er ihnen beim Fangen einer großen Regenbogenforelle helfen würde, die sie zum Abendessen braten könnten. Er versprach Donna, nicht über seinen Job zu reden und auch nicht ein einziges Mal in Miami anzurufen, um sich zu erkundigen, wie die Arbeit an seinen noch ungelösten Fällen vorankomme.
In vierzehn Jahren Tätigkeit als Detective des Morddezernats hatte Sergeant Al García selbst eintausendzweiundneunzig Morde aufgeklärt. Es war sein Fluch, daß er sich an jeden einzelnen erinnern konnte. Auch an die seltsamsten Begleitumstände. Daran, daß gerade »Rescue 911« im Fernsehen lief, als sie die Umrisse der Leiche mit Kreide nachfuhren. Oder an die geschmuggelte Rolex, die sich am Arm des Opfers befand. An den Geruch verbrannter Plätzchen in der Küche. An ein Foto an der Wand, auf dem der Tote gerade seinen Spaß in Disney World hatte. Al García haßte die unfehlbare Gründlichkeit seiner Erinnerung. Dank ihr war er ein hervorragender Detective, aber zugleich auch ein zutiefst gepeinigter Mensch.
Montana war besser als erwartet. Weit und offen und freundlich, aber mit einigen Ausnahmen. Der Mann an der Rezeption des Motels in Missoula bedachte ihn mit einem mißtrauischen Blick, als er seinen Namen auf der Kreditkarte las. Ein García aus Miami zu sein war in diesen Zeiten nicht gerade einfach. Einigen Leuten kam automatisch der Verdacht, daß man sechs Kilo Stoff im Kofferraum und eine geladene Uzi unter dem Vordersitz hatte.
Am nächsten Tag, als sie an der Blockhütte am Fluß eintrafen, vergaß Al García beinahe, woher er kam und womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Er stand auf der Holzveranda und dachte, daß das Flußtal der schönste Ort sei, den er je gesehen hatte. Er pumpte die vom würzigen Kiefernduft erfüllte Luft in seine Lungen, schloß die Augen und verlor sich in der Stille der Wälder ringsum. Am ersten Tag beobachtete Andy zwei
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