Studio 6
und beobachtete ihn über den Bildschirm hinweg. Ob er sie kannte? Sie würde hingehen und ihn begrüßen müssen, sie zögerte und strich sich das halb trockene Haar zurück.
Als er aufgelegt hatte, ging sie schnell zum Desk. Sie hatte schon Luft geholt, um sich dem Nachrichtenchef, der ihr den Rücken zuwandte, vorzustellen, als das Telefon erneut klingelte und er augenblicklich dranging. Annika blieb hinter dem Stuhl stehen und hatte plötzlich einen trockenen Hals. Nervös ließ sie den Blick schweifen. Da fiel ihr das Konkurrenzblatt ins Auge. Auf der ersten Seite prangte das Abiturfoto von Josefine. Die Headline war groß und schwarz: »STRIPPERIN IN EINEM PORNOKLUB«. Annika musste sich am Drehstuhl des Nachrichtenmachers festhalten und lehnte sich über die Zeitung. Die Bildunterschrift lautete: »Die ermordete Josefine arbeitete in der Sexbranche«.
»Wie konnten wir bloß diesen Gesichtspunkt außer Acht lassen? Können Sie mir das vielleicht erklären?«
Annika schaute hoch und begegnete dem kalten Blick des Nachrichtenmachers. Sie befeuchtete ihre Lippen und streckte die Hand aus. »Annika Bengtzon, freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte sie leicht gepresst.
Der Mann schaute schnell weg, drückte ihr eilig die Hand und murmelte seinen Namen, Ingvar Johansson. Er nahm das Konkurrenzblatt und hielt es Annika entgegen.
»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie sich um diesen Mord gekümmert. Wie konnte uns, verdammt nochmal, entgehen, dass sie eine Hure war?«
Annika spürte, wie ihr Puls flatterte, ihr Mund war völlig ausgetrocknet.
»Sie war keine Hure«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Sie tanzte im Klub ihres Freundes.«
»Ja, splitterfasernackt.«
»Nein, sie trug ein Höschen. Ihr Freund hielt sich streng an das Gesetz.«
Ingvar Johansson starrte sie an.
»Warum haben Sie das nicht geschrieben, wenn Sie es wussten?«
Sie schluckte, das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Ja, da habe ich wohl … einen Fehler gemacht. Ich dachte, es wäre nicht so wichtig.«
Das Telefon klingelte wieder, und der Nachrichtenchef wandte sich ab. Annika stiegen Tränen in die Augen. Mist.
Verdammter Mist. Jetzt ist es aus. Jetzt bin ich erledigt.
Sie machte kehrt und ging zu Berits Platz zurück, der Boden schwankte unter ihren Füßen. Bei dieser Zeitung konnte sie offenbar nichts richtig machen!
Das Telefon auf Berits Schreibtisch schrillte, sie eilte hin, räusperte sich und nahm ab.
»Ja, hallo, hier ist Lisbeth«, sagte eine reife Frauenstimme.
Annika sank auf den Stuhl, schloss die Augen und versuchte, einen Anflug von Hyperventilation zu unterdrücken.
»Wer bitte?«, fragte sie verwirrt.
»Lisbeth, die Sozialarbeiterin.«
Die Stimme klang jetzt ein wenig vorwurfsvoll.
Annika verdrehte die Augen.
»Ja, natürlich«, beeilte sie sich zu sagen, »das Jugendheim in Täby. Was kann ich für Sie tun?«
»Unsere Jugendlichen führen heute ihre Demonstration gegen die Gewalt durch«, erklärte Lisbeth. »Sie werden um zwei mit drei Bussen hier wegfahren und dann wahrscheinlich gegen halb drei am Tatort sein.«
Annika holte tief Luft und massierte sich die Stirn.
»Um halb drei«, echote sie.
»Ja, ich dachte, dass Sie das sicher gern wissen würden«, meinte Lisbeth.
»Ja, sehr schön, vielen Dank«, erwiderte Annika und legte auf.
Sie ging zur Toilette und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und über die Handgelenke. Langsam wich die Panik.
So schlimm ist es nun auch wieder nicht, dachte sie. Ich muss einfach lernen, nicht alles gleich so ernst zu nehmen.
Natürlich kann man der Meinung sein, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber was soll’s?
Sie strich sich über die Haare, ging in die Cafeteria und kaufte sich ein Brot. Rein moralisch gesehen, konnte es auch durchaus sein, dass sie es war, die Recht hatte.
Es lohnte sich, das genauer zu untersuchen.
Sie nahm ihr Brot und eine Fanta Light und ging zu Berits Platz. Der Ombudsmann für die Presse war in diesem Fall eine Frau.
»Ich möchte Anzeige erstatten«, erklärte Annika.
»Aha, natürlich, sind Sie selbst betroffen?«, fragte die Frau.
»Nein, ein Mädchen, das tot ist.«
Die Ombudsfrau war freundlich und geduldig.
»In diesem Fall müssen die Angehörigen Anzeige erstatten, oder Sie müssen von den Angehörigen bevollmächtigt sein.«
Annika dachte nach.
»Es geht einerseits um eine Zeitung, andererseits um ein Radioprogramm, bin ich da bei Ihnen richtig?«
»Den Zeitungsartikel können wir uns
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