Stuermische Gefahr
jeden Tag an, um sich nach ihm zu erkundigen. Soweit Scarlett wusste, gab es im gesamten Staat Louisiana keine Vermisstenanzeige, deren Beschreibung auf ihn gepasst hätte.
„Gar keine Veränderung?“ Sie sah öfter nach ihm, als nach anderen Patienten. Warum, konnte sie sich selbst nicht erklären. Irgendetwas faszinierte sie an ihm. Er sah trotz seines Zustandes gut aus, aber das allein konnte nicht die Erklärung sein. Gestern Nacht hatte sie zwei Stunden bei ihm gesessen. Nach Feierabend. Sie hatte ihn betrachtet, mit ihm geredet und ihm etwas vorgelesen. Vielleicht war es einfach das Geheimnisvolle, das ihn umgab, das sie so faszinierte? Nicht zu wissen, wer er war? Aber auch dies war keine Erklärung, wie sie sich eingestehen musste. Etwas ging von ihm aus, das sie so in seinen Bann zog. Das war vollkommen verrückt. Sie fühlte sich sicher in seiner Gegenwart und nicht allein, wie sonst wenn sie in ihrer Wohnung war. Dabei war doch der Unbekannte der Hilflose in dieser Konstellation und nicht sie selbst. Verrückt, ja das war einfach verrückt. Sie hatte ihm sogar ein paar Mal über die weichen blonden Haare gestrichen. Eine intime Berührung, die eigentlich seiner Familie vorbe halten sein sollte, aber es war niemand für ihn da. Also hatte sie es sich erlaubt. Sie hatte schon lange keinen Mann mehr berührt , und obwohl er ihre Berührung nicht erwidern konnte, hatte es sich so angefühlt. Sie wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, denn das war nun wirklich unerklärlich. Wahr scheinlich tat sie es aus Mitleid, weil er niemanden hatte, der ihm jetzt beistand. Das musste der Grund sein. Was nicht erklärte, warum sie sich immer wieder vorstellte, wie sich seine Lippen auf ihrer Haut anfühlen würden. Er hatte einen wunderschön geformten Mund, oh Gott, sie würde ihn wahrscheinlich demnächst küssen. Sie musste sich am Riemen reißen. Der Mann lag im Koma und war ihr Patient! Sie zwang sich, sich wieder auf Lance zu konzentrieren.
„Seine Vitalfunktionen sind hervorragend. Er müsste längst aufgewacht sein.“
„War die Polizei heute wieder hier?“
„Ja, langsam gehen die mir auf die Nerven. Ich habe mehrfach erklärt, dass ich ihnen Bescheid gebe, wenn sich etwas tut. Ist das so schwer zu verstehen?“
„Vielleicht solltest du ihnen eine Zeichnung machen.“ Lance grinste. „Ich bin zu Hause, wenn was sein sollte. Ich muss mal in meinem eigenen Bett schlafen.“
Trotz seiner gesellschaftlichen Stellung ging er voll in seinem Beruf auf und lebte im Grunde im Krankenhaus. Sie lächelte ihn an. „Schlaf gut.“
Er nickte ihr zum Abschied zu und sie sah ihm nach. Sie musste ihre Einstellung noch einmal überdenken. Nicht jeder Mann in Führungs- und Machtpositionen war gleichzeitig ein schlechter Mensch. Als er aus dem Gang verschwunden war, nahm sie ihre Runde durch die Zimmer auf. Routine setzte ein. Die alte Dame auf Zimmer 151 verlangte nach einem Schlafmittel , und wie immer gab Scarlett ihr ein pflanzliches Beruhigungsmittel. Solange die Patientin glaubte, es sei eine chemische Keule, schlief sie sofort ein.
Einen Streit musste sie noch schlichten. Wie fast jeden Abend, beschwerte sich der Jazzclubbesitzer Danny Artiste über den Fernseher im Nebenzimmer. Geduldig hörte sie sich an, dass er schließlich einen Herzinfarkt gehabt hätte und die nächtliche Ruhe dringend benötige. Sie musste sich ein Grinsen verkneifen. Herzinfarkt war ziemlich übertrieben. Er war mit einem Kreislaufzusammenbruch eingeliefert worden. Da er sehr gut zahlte, gewährte man ihm ein paar Tage im Krankenhaus. Wie sie von den anderen Schwestern erfahren hatte, zog Danny diese Nummer schon seit einigen Jahren ab. Er führte einen Jazzclub gemeinsam mit seiner Schwester, die wohl die Hosen in dieser Konstellation anhatte. Es war sein Weg, ein paar Tage Urlaub zu bekommen. So nervtötend der schwergewichtige Afroamerikaner auch sein konnte, Scarlett mochte ihn. Vor zwei Nächten hatte er ihr zwanzig Dollar beim Pokern abgeknöpft. Dabei hatte er sie zum Lachen gebracht mit Geschichten aus dem Club. Obwohl das ein Ablenkungsmanöver war, aber sie hatte ihm den Spaß gelassen und so getan, als bemerke sie nicht, dass er die Karten in seinem Bademantel verschwinden ließ.
„Sagen Sie dem jungen Hüpfer nebenan, er soll den Fern seher ausmachen!“
„Mach ich sofort , und Sie legen sich hin und schlafen jetzt.“
Der junge Hüpfer war eine fast sechzigjährige Frau, die tatsächlich einen Herzinfarkt und
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