Stuermische Gefahr
Schlaganfall gehabt hatte. Sie weigerte sich, die Kopfhörer für den Fernseher zu benutzen. Angeblich bekäme sie davon Tinnitus.
Leise öffnete Scarlett die Tür zu ihrem Zimmer. Die Frau schlief. Wie jeden Abend schaltete Scarlett den Fernseher aus und hatte damit ihre Runde beendet.
Sie ging zum Ende des Flurs, wo sich ein kleiner Aufenthalts raum für die Schwestern befand. Lily Blue hatte heute ebenfalls Nachtdienst. Von allen Schwestern mochte sie Lily am liebsten. Lily war nie neugierig. Manchmal saßen sie einfach zusammen und schwiegen. Ein angenehmes Schweigen. Von Mia hatte Scarlett erfahren, dass Lily aus einem der ärmsten Viertel stammte und fünf Schwestern und einen Bruder hatte. Die Mutter war schwer an Diabetes erkrankt und der Vater vor zwei Jahren an einem Hirntumor gestorben. Sie hatten nicht das Geld gehabt, ihn von Del Monte operieren zu lassen. Lily hatte sich nach dem Tod ihres Vaters im Krankenhaus beworben und machte ihre Arbeit hervorragend. Lance hatte gesagt, dass sie sicher eine gute Ärztin geworden wäre, aber wenn man aus dem Osten von New Orleans kam, wo das Sumpfgebiet weiter erschlossen wurde, hatte man keine große Zukunft. Lily war eine Schönheit. Mo kk afarbene Haut mit hohen Wangenknochen, sinnliche, volle Lippen und braune Augen mit unendlich langen schwarzen Wimpern. Ihr Haar war dunkelbraun mit Locken, die sie kaum bändigen konnte. Lily lächelte nie. Sie war freundlich zu den Patienten, aber es war immer nur ein kurzes Mundwinkel-in-die-Höhe- Z iehen. Ihre Augen hatten immer einen traurigen Ausdruck. Heute Abend sah sie aus, als hätte sie geweint.
„Hi, Lily.“
„Scarlett.“
„Alles in Ordnung?“ Natürlich würde sie keine Antwort darauf bekommen. Scarlett nahm sich einen Apfel aus der Schale auf dem Tisch und biss herzhaft hinein.
Fast hätte sie sich an ihrem Bissen verschluckt, als Lily plötzlich anfing zu sprechen. „Manchmal möchte ich einfach abhauen. Mein Bruder hat schon wieder Mist gebaut. Meine Mutter hat Diabetes und trinkt zu viel, und meine älteste Schwester hat beschlossen, den Staat zu verlassen und nach Kalifornien zu ziehen.“
So viele Informationen auf ein Mal. Wow. Lily hatte noch nie freiwillig etwas von sich preisgegeben. Scarlett war so verdutzt, dass sie zunächst nichts sagen konnte. Sie brauchte einige Sekunden. „Der Reihe nach. Was für einen Mist hat dein Bruder verzapft?“
„Wie immer, ist beim Ladendiebstahl erwischt worden. Da er vierzehn ist, müssen wir jetzt wieder mal dafür aufkommen. Die Schule schwänzt er auch ständig. Meine Mutter hatte heute wieder einen Zuckerabfall, weil sie nur billigen Fusel zum Mittag hatte. Meine älteste Schwester will es als Model in Kalifornien versuchen.“
Nicht der schlechteste Plan, und sollte das Schönheitsgen in der Familie stark sein, standen die Chancen nicht schlecht. „Was ist mit deinen anderen Schwestern, helfen die dir?“
„Drei von ihnen. Ruby ist Kellnerin, Lola ist arbeitslos, aber sie bemüht sich, etwas zu finden. Zara arbeitet in einem kleinen Laden und verkauft Talismane und diesen Voodookram für Touristen. Wir vier halten alles über Wasser. Faith ist erst acht, sie geht natürlich noch zur Schule.“ Es war schwer , sich vorzustellen, was für ein Leben Lily führte, wenn man wie Scarlet t aus einer zwar nicht reichen, aber privilegierten Familie stammte. Schlecht war es ihr nie gegangen. Außerdem war sie ein Einzelkind. Mit zwanzig war sie in andere Kreise geraten. Vermeintlich bessere Kreise, die sich im Nachhinein als schlechter entpuppt hatten. Aber darüber sprach sie nicht gern. „Kann ich irgendwie helfen?“
Lily schüttelte die Locken. „Nein, deshalb habe ich es dir nicht erzählt. Ich glaube, ich musste es einfach mal aussprechen.“
„Jederzeit und wenn ich mehr tun kann, dann sag es mir. Versprochen?“
Lily sah nachdenklich aus. Erwartete sie jetzt, dass Scarlett ihr auch etwas aus ihrem Leben erzählte? Manchmal wünschte sie sich so sehr einer Freundin alles erzählen zu können, aber sie konnte einfach nicht. Sie kannte Lily auch nicht gut genug, auch wenn sie das Gefühl hatte , ihr vertrauen zu können. Dennoch schaffte sie es nicht , über ihren Schatten zu springen. Sie fühlte sich sicherer, wenn sie die Bekanntschaft mit Lily auf belanglose Gespräche auf der Arbeit beschränkte. Allerdings hatte sie noch gar nicht ausprobiert, ob es ihr nicht doch besser gehen würde, einfach mal loszulassen und über alles zu reden.
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