Stürmisches Paradies
Leben auch wollte, sie wusste, sie würde einen hohen Preis dafür zahlen müssen.
Ein Gefühl der Leere wuchs in ihr und schien sie zu verschlingen, und Alicia suchte Zuflucht in dem Zimmer, das ihre Eltern sich früher geteilt hatten. Sie war seit dem Tod ihres Vaters nur einmal dort gewesen, als sie gekommen war, um seine Kleider für die Beisetzung zu holen. Jetzt, während sie sich in dem winzigen Raum umsah, fühlte sie das überwältigende Bedürfnis, ihnen nahe zu sein. Sie wollte den Menschen nahe sein, die sie so geliebt hatten, wie sie war, und die nicht versucht hatten, sie zu etwas anderem zu machen.
Am Fußende des Bettes lag ein einfacher Koffer. Sie hatte ihn noch nie offen gesehen und sich auch noch nie gefragt, was darin war. Aber jetzt, als sie verzweifelt versuchte, eine Verbindung zu ihren Eltern zu spüren, zündete Alicia einen Kerzenleuchter an, stellte ihn auf den Boden und kniete sich vor den Koffer.
Der Deckel öffnete sich leicht, und gleichzeitig strömte der Geruch ihrer Mutter und ihres Vaters heraus, ein Hauch von Rauch durchmischt mit Lavendel. Laut schniefend begann sie den Inhalt durchzusehen. Es gab verschiedene billige Schmuckstücke, verschlissene Decken und ein paar Kleider ihrer Mutter, die in Papier eingeschlagen waren. Alicia wickelte eines aus und zog ein gelbes Kleid hervor, mit einfachem Schnitt, aber dennoch schön in seiner Schlichtheit. Sie erinnerte sich daran, dass es Anna Davidsons Lieblingskleid gewesen war, bevor sie im letzten Frühjahr gestorben war. Stehend hielt Alicia das Kleid an sich hoch, um zu sehen, ob es ihr passen würde. Vielleicht konnte sie es zur Kirche tragen, um den Leuten zu beweisen, dass sie hübsch sein konnte, wenn sie nur wollte.
Ein kleines, eingewickeltes Päckchen fiel aus dem Kleid und plumpste auf den Holzfußboden.
Neugierig legte Alicia das Kleid auf das Bett und hob das Bündel auf. Als sie es umdrehte, las sie ihren Namen, der in der Handschrift ihres Vaters auf der Vorderseite geschrieben stand. Stirnrunzelnd setzte sie sich aufs Bett und zog an der Kordel, die das Päckchen verschnürte.
Drinnen waren zwei Briefe. Ihr Name stand auf dem ersten, der zweite trug das Siegel ihres Vaters und in der Mitte den Namen »Blake Merritt« in ordentlicher Schrift. Wer war Blake Merritt?, fragte sie sich. Doch sie legte den Umschlag beiseite und öffnete vorsichtig ihren eigenen Brief.
Meine herzallerliebste Tochter,
Während sie die Worte las, hörte Alicia die Stimme ihres Vaters und musste gegen die Tränen ankämpfen, die ihr in den Augen brannten.
Wenn du dies hier liest, bedeutet das, dass ich fortgegangen bin, um bei deiner Mutter zu sein. Bevor ich dir alles erkläre, bitte sei versichert, du warst eine unserer größten Freuden. Wir hätten dich nicht mehr lieben können.
Wie auch immer, du warst nicht schon immer unser Kind. Als du etwa zwölf warst, fanden wir dich und deine leibliche Mutter am Strand angeschwemmt. Ihr wart beide verletzt. Deine Mutter war völlig verzweifelt und du, mein liebes Mädchen, warst bewusstlos. Bevor deine Mutter starb, flehte sie uns an, dich zu beschützen. Sie hatte Angst, dass die Piraten, die euer Schiff angegriffen hatten, von eurer Flucht erfahren und dich suchen würden. Dein Name und der Name »Samantha«, waren die letzten Worte, die sie sprach.
Du warst verletzt und hast geblutet, und so nahmen wir dich sofort mit zu uns nach Hause. Du hattest eine große Schnittwunde quer über deiner Wange, die wir so gut wir konnten versorgt haben. Doch wie du weißt, blieb eine tiefe Narbe zurück. Wir haben uns tagelang Sorgen um dich gemacht, und als du endlich aufgewacht bist, hast du dich an nichts erinnert, nicht einmal an deinen Namen.
Wenn ich nun zurücksehe, erkenne ich, dass es selbstsüchtig war, dir nicht die Wahrheit zu erzählen, aber dein Gedächtnis kehrte nie zurück, und wir hatten deiner Mutter versprochen, dich zu beschützen. Wir beschlossen, es wäre das Beste, wenn du glauben würdest, du wärst als Kind gestürzt und die Narbe und der Gedächtnisverlust wären eine Folge dieses Unfalls. Wir wollten dir den Schmerz ersparen, zu wissen, dass deine Familie von Piraten umgebracht worden ist.
Es gibt eine Plantage auf der anderen Seite der Insel, und der Besitzer, Oliver Grant, hat ungefähr zur gleichen Zeit, als wir dich fanden, drei Schiffbrüchige aufgenommen. Erst als sie ein Jahr später flohen und dabei sein Schiff stahlen, ahnte ich die Wahrheit.
Weitere Kostenlose Bücher