Stumme Angst (German Edition)
Kuss.«
Ich grabe das Gesicht zwischen meine Knie, er kann mich mal, dieses kranke Arschloch!
»Was denn? Willste jetzt nicht mehr, oder was?«
»Du siehst doch, dass ich was an der Lippe habe.«
Seine Berührung, gedankenverloren streichelt er meinen Kopf.
»Soll ich dir mal die Haare kämmen?«
Ich bleibe still, er macht ohnehin, was er will. Und solange ich den Kopf irgendwo verbergen kann. Solange er nicht in meinem Gesicht lesen kann.
Ida – dieses Mädchen. Ich rechne nach. Wenn Natans Großmutter heute über achtzig wäre, könnte sie die Autorin des Tagebuchs sein. Wie alt sie damals gewesen sein mag? Sie ging noch zur Schule, als sie das schrieb. Sie muss 16 gewesen sein, vielleicht 17? Durften Mädchen in diesem Alter die Höhere Schule noch besuchen? Durften sie überhaupt Medizin studieren?
Natürlich weiß ich, was mit ihr geschehen ist. Gleich am Anfang wusste ich es. Es hat etwas Beruhigendes, wenn man weiß, dass man nicht alleine ist damit. Doch es passierte ihr nur einmal, nicht? Nur einmal.
Und ihre Periode. Die hatte sie bekommen. Alles verkrampft sich, ich spüre das Schluchzen, wie es aufkommt, ich werde es nicht zurückhalten können, obwohl ich weiß, dass er zornig werden wird.
Meine Periode. Ich denke an die letzten drei Pillen in der Packung, die ich nicht mehr nehmen konnte. Normalerweise setzen drei Tage nach der letzten Einnahme die Blutungen ein. Gestern wäre das gewesen, gestern und heute spüre ich nichts. Kein Ziehen im Bauch, das die Menstruation ankündigen würde.
Das Kämmen der Haare wird zum Ziehen, zum Rütteln, zum Schmerz.
»Hör auf«, motzt er, »hör auf! Sonst.«
Er reißt meinen Kopf hoch, ich schaue in seine Augen und denke: Aber eigentlich könnte es nur von Liam sein.
Dienstag, Tag 5, Liam
H ier auf dem Tisch liegen sie. All ihre Zeichnungen, die komplette Mappe, die sie immer vor ihm geheim hielt, aus der sie allenfalls ein einzelnes Blatt zog, um es ihm zu zeigen. Doch die meisten hielt sie unter Verschluss.
»Zeig doch mal«, bat er.
»Lass, Liam. Das ist wie ein Tagebuch. Ich zeig dir nicht alles auf einmal.«
Die beiden Kommissare sitzen an seinem Küchentisch. Ein seltsames Bild geben sie ab, auf dem Biedermeiersofa sinkt man ein. Es ist ein Erbstück von seinem Großvater, der Bezug noch original. Ein wenig ist es so, als würde ihre Autorität einsinken; der junge Kommissar fühlt sich sichtlich unwohl, kann sich nicht entscheiden, ob er sich vor- oder zurücklehnen soll.
Der ältere Kommissar sitzt aufrecht und lässt Liam blättern. Ob er diese Person kenne oder diese. Liam starrt auf die Zeichnungen. Das Profil eines jungen Mannes: Sebastian, Sydney . Die Haarsträhnen in seinem Gesicht, auf einem anderen Blatt skizzierte Anna Muscheln, ein Zelt irgendwo am Meer.
Anna hatte ihm erzählt, dass sie nach Australien gereist war, die Skizzen erzählen davon: Melbourne, Brisbane, Great Barrier Reef. Auf einem Blatt dichtes Geäst, darin der Umriss eines Tieres und Annas handgeschriebener Hinweis: Koala-Bären lassen sich schlecht zeichnen. Die wuseln ständig herum.
Der Kommissar gibt ihm Zeit. Lässt ihn verdauen, was er dort sieht: Wie ein bunter Fächer breitet sich Annas Leben plötzlich vor ihm aus. Jedes Bild erzählt eine andere Geschichte. Sebastian verschwindet, in Annas Leben treten Menschen mit dunklen Gesichtern. Verstopfte Straßen, Kinder über Kinder – das Heim, in dem Anna in Indien arbeitete. Kinder beim Spielen, Kinder beim Schlafen. Die sitzende Gestalt eines Mannes – Balu steht dort.
Balu? So heißt doch keiner. Allenfalls dieser Bär aus dem Dschungelbuch. Oder es ist ein Kosename für einen, den sie küsste?
Balu auf den nächsten zehn Blättern: ein Kind auf dem Schoß haltend, eine Grimasse schneidend. Balu und eine andere Person, eine junge Frau, mit locker drapiertem Kopftuch. Wie genau Anna den Verlauf der Stofffalten zeichnete. Auf ihrer Stirn ein Punkt, wie ihn Inderinnen tragen. Ihr Name: Leela .
Liam überspringt die nächsten Blätter, ein Stapel von fünf Zentimetern liegt noch vor ihm, und er ahnt, dass er die Nerven der beiden Kommissare nicht überstrapazieren darf. Wenn er das meiste davon sehen möchte, muss er sich beeilen.
»Kann ich mal das Klo benutzen?«, fragt der junge Kommissar.
Liam nickt, macht eine Handbewegung, ohne aufzublicken.
Elias , steht auf dem nächsten Blatt, wieder ein neues, gut aussehendes Gesicht. Wieder ein anderes Lachen. Ausschnitte einer Wohnung, Liam nimmt an,
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