Stumme Angst (German Edition)
nicht in die Schule gegangen. Als könnte ich dorthin gehen, ihnen jemals wieder in die Augen blicken!
Am Morgen klopfte es an der Tür. Sogleich war die Angst wieder da, bleckte die Zähne und grinste mir ins Gesicht. Ich zog ein Messer aus der Küchenschublade und verbarg es in meinen Rockfalten. Dann öffnete ich einen Spalt und sah in sein Gesicht. Ich erschrak, denn natürlich war mein erster Gedanke: Wenn ihn jemand gesehen hat. Wenn Heinrich …
Doch Heinrich war in der Schule. Trotzdem: Es war zu gefährlich, und normalerweise kam Jakob nur in den Abendstunden.
Sein Gesicht, wie sein Gesicht aussah. Grün und blau war es, ich erschrak über die Augenbinde und über den Arm, der vergipst in einer Schlaufe hing.
Warum bist du auch nicht schneller gelaufen, Jakob? In der Schule warst du der schnellste Läufer, der klügste Kopf gewesen. Deine Hand, wie sie immer als Erste nach oben schnellte. Das gefällt ihnen nicht, Jakob.
Ich ließ ihn hinein, er griff nach meiner Hand. Ich ließ es geschehen, hatte zwar Angst vor der Berührung, doch sie war so sanft, dass es schon ging.
Als er mich in den Arm nahm, begann ich zu weinen.
Ich glaube, ich weinte sehr laut, und wir sanken im Flur zusammen. Wir haben uns lange gehalten. Sein Hemd roch nach Sommer, die Haut nach Jakob.
Später machte ich uns Brote und steckte ihm Eier und Brombeermarmelade zu. Er und seine Familie haben seit Monaten keine Arbeit mehr.
Er blieb bis in den Abend hinein. Vater kam und sah ihn am Tisch sitzen, sagte nichts, strich ihm bloß über die Schulter. Ich weiß, dass er Jakob mag. Ich weiß aber auch, dass es ihm lieber wäre, er würde verschwinden, weil er Angst hat um mich.
»Wer hat dir den Gips gemacht?«
»Ein befreundeter jüdischer Arzt.« Ins Krankenhaus hätte er gar nicht erst zu gehen brauchen.
»Warum seid ihr nicht raus?«, wollte Vater wissen, immer wieder dieselbe Frage. Er scheint nicht zu verstehen, dass Jakob und seine Familie hier zu Hause sind.
»Warum nur seid ihr nicht rechtzeitig raus?«
Jakob antwortete nicht, hielt nur den Kopf ruhig auf das Sofa gelehnt.
»Ich habe Angst«, meinte ich, »dass sich dort ein Blutgerinnsel gebildet hat.«
»Nein, Ida. Dann wäre ich jetzt sicher nicht mehr am Leben. Schlimmer sind die Wunden, die man nicht sieht.« Er traut sich nicht, nach meiner Hand zu greifen.
2. November 1941
Ich habe Angst, ihn nicht wieder zu sehen. Sie könnten ihm wieder auflauern. Es ist einfach, einen Juden totzuschlagen, wenn man will.
Heute ist Sonntag, aber ich gehe nicht in die Kirche. Alle meinen, ich wäre krank. Der Schulleiter, die Kameradinnen vom Bund deutscher Mädchen.
Lotte kam vorbei und ließ Grüße und einen Blumenstrauß zurück. Sie wollte mich sehen, aber Vater meinte, ich würde fest schlafen.
Lotte könnte eine Freundin sein. Ihr Blick ist offen, ich mag die vielen Sommersprossen auf ihrer Nase. Lotte mit den roten Haaren. Sie ist einsam wie ich, und ihr Lachen wirkt genauso aufgesetzt, wenn die Kameradinnen einen Witz machen. Aber man weiß nie, wem man trauen kann.
Eva kann ich vertrauen. Schließlich kenne ich sie schon von Kindesbeinen an. Doch Eva ist fort, in die Stadt gezogen, Krankenschwester geworden.
»Und du wirst Ärztin, Ida«, beschwört sie mich immer. »Mach etwas aus deinem klugen, schönen Kopf!«
Nicht mal richtig schreiben kann ich ihr.
Vater mahnt: »Erzähle ihr bloß nichts von Jakob!« Manchmal werden die Briefe geöffnet. Und das Tagebuch, das soll ich verstecken.
Dabei hatten wir uns nur ein paar Mal geküsst. Küsse, die kratzen, weil er sich ja doch nie richtig rasiert.
Doch Geheimverstecke bleiben nicht geheim. Geheimverstecke werden aufgespürt. Von einer Meute wild kläffender Hunde mit spitzen Zähnen. Ihre Lippen sind rau, ihr Atem sauer. Erst tasten sie, dann beißen sie.
Mit ihren Fahrrädern schnitten sie mir den Weg ab.
»Wir haben dich gesehen, du Schlampe, zusammen mit dem Jud! Lass uns mal schauen, Ida. Ob du noch Jungfrau bist. Falls ja, haste ja Glück. Falls nicht, kannst du was erleben!«
Wie Heinrich da stand, niemals zuvor sah ich solche Wut in seinen Augen. Und natürlich war er der Erste. Ich konnte noch flüstern: »Wie kannst du es wagen.«
4. November 1941
Ich habe solche Angst, ihn nie wieder zu sehen. Nicht zu erfahren, was mit ihm geschieht.
Jakob hat recht: Schlimmer sind die Wunden, die man nicht sieht. Der Schmerz geht vorbei. Nach ein paar Stunden spürt man ihn weniger und am nächsten Morgen
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