Stumme Angst (German Edition)
der von Elias. Das Ziehen in seinem Bauch, ich bin nur eines von diesen Kapiteln, denkt er plötzlich, nur eine weitere Facette in ihrem Leben. Später würde sein Gesicht erscheinen, sein Lachen, die Umrisse seiner Wohnung. Seine schlafende Gestalt im Bett, Kapitän, wie er sich davor zusammengerollt hat.
Jetzt versteht er, warum Anna ihm die Bilder nicht zeigen wollte. Weil die Wiederholung zu offensichtlich gewesen wäre. Weil die Skizzen von ihm nichts Besonderes mehr gewesen wären, sich lückenlos in ihr Album eingereiht hätten.
Ein neues Gesicht: Natan . Seine Gestalt an einem Tisch, darunter der Hinweis: Café am Ballplatz . Das reicht. Liam steht auf, lässt Wasser in ein Glas laufen. Trinkt, ohne abzusetzen.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Der Wasserhahn tropft, gestern Abend hat das angefangen. Er hat einen Schwamm darunter gelegt, damit es nicht so laut klackt.
»Herr Lorenz?«
Unsicher schleicht er zurück an den Tisch. Der Blick des Hauptkommissars ist durchdringend, doch er wartet, gibt Liam Zeit.
»Ich kenne ihn nicht, diesen …« – er wirft einen Blick auf die Skizze – »Natan. Ich war nur irritiert wegen des Ortes. Café am Ballplatz. Dort haben Anna und ich uns kennengelernt.«
Das leichte Zittern seiner Hände, als er weiterblättert. Es kommt, wie er es erwartet hat: eine Art Lebensumgebung von Natan, ein dunkel wirkendes Wohnzimmer, ein Blick aus einem Fenster raus, ein großer Baum, ein Garten, der verwahrlost erscheint. Natan, am Tisch sitzend. Die Hände flach darauf liegend, dunkle Ringe unter den Augen.
Natan , steht dort. Traurig .
Traurig. Aha.
Ob er an diesem Tag wirklich so aussah? Oder ob Anna ihn bloß so wahrgenommen hat, etwas in ihn hereininterpretierte, ein Anzeichen dafür, dass die Beziehung beendet war?
Es folgen die nächsten: Björn , Erik. Na toll. Wie ein Daumenkino, das man zwischen den Fingern durchlaufen lässt: Der eine geht, der Nächste kommt. It’s raining men.
Immerhin viele Bilder von Erik: breite Hände, gerade Zähne, hohe Stirn. Zuletzt Torben , bis letztes Jahr im Dezember. Bis Anna Liam im April kennenlernte.
In manchen Bildern erkennt er ihre Geschichten wieder. Torben, der Archäologiestudent, mit dem sie über den Fluss fuhr. Seine große Gestalt am Ufer, dahinter das Boot.
Zwischen allen, die sie küsste, immer wieder Bilder von Selma, von Marie. Von Personen, die ihre Eltern sein könnten. Ihre Gestalten verschwommen wie von jemandem, an den man sich nur ungefähr zu erinnern vermag.
Man glaubt einen Menschen zu kennen. Doch man irrt sich. Er spürt die Enttäuschung, wie ein schwerer Klotz liegt sie in seinem Magen. Er hätte nicht gedacht, dass ihr Leben so gewesen ist. So schnelllebig.
Natürlich glaubt er zu verstehen. Wenn man keine Eltern mehr hat, sucht man jemanden zum Anlehnen. Aber doch nicht jeden x-beliebigen Balu, Anna! Irgendeinen Sebastian , Kategorie dahergelaufener Backpacker! Wahrscheinlich ein cooler Surfer.
Vielleicht hat er kein Recht, so zu denken. Sie hat den einen oder anderen Kerl gehabt – na und? Bei ihm waren es auch einige Mädels gewesen. Was stört ihn eigentlich daran? Dass sie ihm keine Zahl genannt hatte? Ihm so gut wie nichts erzählt hatte? Das hatte er auch nicht.
»Kann ich mir von den Skizzen ein paar Kopien machen?«, wendet er sich an den Hauptkommissar.
»Ich dachte, Sie erkennen niemanden darauf?«
»Tu ich auch nicht. Aber vielleicht, wenn ich mich damit beschäftige. Wenn ich sie mir länger anschaue.«
Der Kommissar steckt die Blätter zurück in die Mappe. Achtet sorgfältig darauf, dass seine Finger die Kohlestriche nicht verschmieren.
»Ich kenne mich mit so was nicht besonders gut aus«, meint er, anstatt seine Frage zu beantworten. »Aber sie scheint begabt zu sein.«
»Ihre Mutter war Künstlerin. Vielleicht sind Ihnen die Malereien in Annas Wohnung aufgefallen? Die ganzen Leinwandbilder. Sie stammen von Sophia Hansen.«
Der junge Kommissar tritt zurück in die Küche, nimmt Platz auf einem Stuhl, möchte wohl nicht wieder im Sofa versinken. Liam betrachtet ihn, wie er dasitzt: Sein Magen knurrt heute nicht, dafür stinkt er penetrant nach After-Shave.
»Interessantes Klo«, kommentiert er.
Liam nickt. Besucher bleiben manchmal ewig auf seiner Toilette, weil sie die Gedichte lesen, die dort an der Wand hängen: Rilke, Ringelnatz, Kästner. Morgenstern, Bachmann, Celan.
»Herr Lorenz, wie haben Sie den letzten Freitagabend verbracht?«
Allmählich dämmert es ihm. Warum
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